Debatte über die Ostverträge 1972

Renate Höpfinger

 

 

Die von der sozialliberalen Koalition unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt eingeleitete Ostpolitik polarisierte die Öffentlichkeit und führte zu heftigen Debatten und Auseinandersetzungen in den deutschen Parlamenten. „Wandel durch Annäherung“ war das Schlagwort, unter dem die starre Blockkonfrontation zwischen Ost und West aufgebrochen werden sollte. Die 1970 abgeschlossenen Verträge von Moskau (12.8.1970) und Warschau (7.12.1970) garantierten Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der in Folge des Zweiten Weltkriegs entstandenen Grenzen. Die deutsche Ostpolitik fügte sich dabei in die von den USA vorangetriebene und den westlichen Verbündeten unterstützte Politik der Ost-West-Entspannung ein. Sie führte jedoch innenpolitisch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der CDU/CSU-Opposition, die die Verträge wegen der „Mißachtung deutscher Interessen" ablehnte. Jedoch war die Haltung zu den Ostverträgen auch innerhalb der Union nicht einheitlich. Besonders die CSU sah sich als Speerspitze, die die CDU zu einer eindeutigen Ablehnung bewegen wollte.

Bereits am 21. Dezember 1971 hatte die Bayerische Staatsregierung in einem Beschluss ihre Bedenken gegenüber dem Vertragswerk geäußert. Sie sah in der Festlegung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens eine Abtrennung deutscher Staatsgebiete, die nur durch eine Änderung des Grundgesetzes möglich sei. Mit den Verträgen sei der Beitritt der ehemals deutschen Ostgebiete zum Grundgesetz ausgeschlossen, weshalb diese sowohl gegen den Artikel 23 wie gegen das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes verstießen.

Als im Februar und März 1972 ihre Ratifizierung im Bundestag und im Bundesrat anstand, befasste sich der Bayerische Landtag in einer denkwürdigen, 16 Stunden dauernden Debatte mit dieser die gesamte Öffentlichkeit beherrschenden Frage der Außenpolitik.

16stündige Debatte im Bayerischen Landtag

Am 25./26. Januar 1972 beschäftigte sich der Bayerische Landtag mit dieser außenpolitischen Frage, die nach Auffassung der Landtagsopposition außerhalb der Kompetenzen eines Landesparlaments lag. Die CSU-Politiker begründeten dieses Novum, ein bundespolitisches Thema im Landesparlament zu diskutieren, mit der durch die Verträge entstandenen außergewöhnlichen Sachlage, die gewissermaßen einer Notlage gleichkomme. In einer Interpellation der CSU-Landtagsfraktion wurde die Bayerische Staatsregierung aufgefordert, ihre Haltung sowohl im Hinblick auf verfassungsrechtliche Fragen, wie auch auf die politische Beurteilung der Verträge zu erläutern. Damit sollte noch vor der ersten Behandlung der Verträge von Moskau und Warschau im Bundestag die ablehnende Haltung der CSU gegenüber dem Vertragswerk unterstrichen werden.

Vor allem der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß sah darin Versuche der Bundesregierung, die Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis zu lösen und damit Tatsachen zu schaffen, die letztlich den Weg zu einer neutralen gesamtdeutschen Konföderation ebneten. Mit dem von ihm geprägten Ausspruch: " Wir Bayern dürfen uns nicht scheuen, die letzten Preußen zu sein, wenn die Historie es erfordert" brachte er seine Vorbehalte auf eine medienwirksame, griffige Formel. Im Gegensatz dazu verfolgte Ministerpräsident Alfons Goppel eine verbindlichere Strategie. In seiner Antwort signalisierte er zwar Bereitschaft, die von der CSU-Landtagsfraktion geäußerten Bedenken auch im Bundesrat vorzubringen, ließ sich aber nicht auf eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts durch den Freistaat festlegen.

Weitere Debatten in anderen Landesparlamenten

Auch andere Landesparlamente mit CDU-geführten Landesregierungen debattierten diese Fragen. In Mainz brachte der Rheinland-Pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl in einer dreistündigen Debatte die Bedenken der Union ein, im Saarland Franz-Josef Röder. Zu einer zwölfstündigen Sitzung kam es unter Hans Filbinger in Stuttgart, wo die große Koalition aus CDU und SPD an dieser Frage auseinanderzubrechen drohte.

Die Ostverträge werden ratifiziert

Trotz aller Bedenken verabschiedete der Bundesrat am 9. Februar 1972 auch mit den Stimmen der unionsregierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein in einfacher Mehrheit eine zwölf Punkte umfassende Entschließung zu den Ostverträgen. Die parallel dazu geführten Beratungen im Bundestag mündeten ebenfalls in eine gemeinsame Erklärung der Fraktionen des Bundestages, die die Vorwegnahme eines Friedensvertrages durch die Ostverträge ausschloss. Der Kompromiss in Form der gemeinsamen Entschließung schrieb fest, dass das Kernstück der Ostverträge die Verpflichtung zum Gewaltverzicht sei und die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehalten bleibe. Politisches Ziel bleibe die Wiedervereinigung. Die UdSSR nahm die Entschließung entgegen, bestand jedoch auf der gegenteiligen Auslegung des Moskauer Vertrages, weshalb sich die Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion bei der Schlussabstimmung am 17. Mai 1972 der Stimme enthielt. Damit waren jedoch die Verträge im Bundestag ratifiziert. Zwei Tage später stimmte auch der Bundesrat den beiden Verträgen zu, die von der Union regierten Länder enthielten sich auch hier der Stimme. Die Ostverträge traten zusammen mit dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin am 3. Juni 1972 in Kraft.

Die CSU und Franz Josef Strauß hatten vor allem wegen der Einheit der Unionsfraktion einer Enthaltung bei der Abstimmung zugestimmt. Sie interpretierten die Haltung der CDU zu den Ostverträgen jedoch als ein „Umfallen“. Zudem machte die von den im Bundestag vertretenden Fraktionen gefasste gemeinsame Entschließung zu den Verträgen eine Klage gegen die Ostverträge vor dem Bundesverfassungsgericht praktisch unmöglich. Die lavierende Haltung der CDU, die schließlich zu der Stimmenthaltung der Unionsfraktion führte, war dann auch aus Sicht der CSU einer der Gründe für den Misserfolg der Unionsparteien bei der Bundestagswahl am 19. November 1972.

Gang nach Karlsruhe

Für die Verträge von Moskau und Warschau war mit der gemeinsamen Entschließung eine parlamentarische Klärung erfolgt, die so für das dritte Vertragswerk, den Grundlagenvertrag mit der DDR vom 21. Dezember 1972, nicht zustande kam. Nach der Auffassung von Franz Josef Strauß stand der Vertrag im Widerspruch zu den auf staatliche Einheit ausgerichteten deutschlandrechtlichen und deutschlandpolitischen Aussagen des Grundgesetzes. Aus diesem Grund bestand er weiterhin auf einer verfassungsrechtlichen Klärung. Nach heftigem innerparteilichen Ringen gelang es ihm, die Bayerische Staatsregierung unter Leitung von Alfons Goppel doch noch zu der bereits im Januar für die beiden Verträge von Moskau und Warschau geforderten Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht zu bewegen. In seinem Urteil vom 31. Juli 1973 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Vertrags, bekräftigte aber zugleich die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland.

Ablehnung des Prager Vertrags 1974

Verstärkt wurde die ablehnende Haltung der CSU gegenüber den Ostverträgen noch durch ihre Rolle als Fürsprecherin der Vertriebenen. Allen voran vertrat die CSU die Interessen der Sudetendeutschen, weshalb sie den deutsch-tschechischen Gesprächen besonders skeptisch gegenüberstand. Die im Oktober1970 begonnenen und 1973 wiederaufgenommenen Verhandlungen mündeten in den Prager Vertrag. Am 11. Dezember 1973 wurde der Vertrag, begleitet von heftiger Kritik an seiner Mehrdeutigkeit, unterzeichnet. Bei der Ratifizierung im Bundestag lehnte dann auf Betreiben der CSU die Gesamtfraktion der CDU/CSU, diesmal einhellig und geschlossen, den Prager Vertrag am 19./20. Juni 1974 ab.

Literatur

Die Stenographischen Berichte der Landtagssitzung vom 25./26. Januar 1972 unter:

https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP07/Protokolle/07%20Wahlperiode%20Kopie/07%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/030%20PL%20250172%20ges%20endg%20Kopie.pdf

https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP07/Protokolle/07%20Wahlperiode%20Kopie/07%20WP%20Plenum%20LT%20Kopie/031%20PL%20260172%20ges%20endg%20Kopie.pdf

Gerhard Hopp: Machtfaktor ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010, S.207-248.

Peter Jakob Kock: Der Bayerische Landtag. Eine Chronik, Bamberg 1991, S.192ff.

Stephan Oetzinger: Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Diss. Universität Regensburg 2016, S. 23-55. Abrufbar unter https://epub.uni-regensburg.de/35784/1/Doktorarbeit%20Ges.%20Ver%C3%B6ff.%20Stand%2013.06.2017.pdf

https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ostvertraege-200102

https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/neue-ostpolitik/reaktionen.html

https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1972k/kap1_1/para2_2.html