Der ausgesprochene Wille zum Missverständnis – Deutungshoheit oder die „Lufthoheit über den Stammtischen“

Peter Hausmann

Vom damaligen Generalsekretär Erwin Huber stammt der Satz: „Die CSU will die Lufthoheit über den Stammtischen erobern“. Er prägte ihn 1989 im Vorfeld des politischen Aschermittwochs in Passau. Kurz nach dem Tod von Franz Josef Strauß fand sich die CSU in einer ungewohnten, leicht nervös angespannten Situation wieder. Die Medienöffentlichkeit diskutierte intensiv über die Frage, wieviel politisches Gewicht eine CSU ohne Strauß noch habe. Selbst von „Unionsfreunden“ wurde der Begriff der „Regionalpartei“ in die Debatte gestreut, zu der die CSU nach dem Tod ihres legendären Vorsitzenden schrumpfen werde. Der bekannte Karikaturist Horst Haitzinger hatte die Situation unmittelbar nach dem Tod von FJS in einer Zeichnung eingefangen, die Deutschland mit einem tiefen schwarzen Loch zeigte, das dort klaffte, wo Bayern ist. Das Loch trug, wie bei einem Schattenriss, die Züge des verstorbenen CSU-Vorsitzenden.

Meinungsführerschaft oder Deutungshoheit

Am Faschingsdienstagsabend veranstaltete die CSU-Landesgruppe im Bundestag für die Bonner Journalisten den traditionellen Presseabend vor dem politischen Aschermittwoch. Dabei wurde mitternachts der Fasching zu Grabe getragen. Ein paar Journalisten mimten die Sargträger und einer den Pfarrer. In einer seiner „Fürbitten“ bat er um „Rhetorische Gaben für einen gewissen Theo W. aus Schwaben“, denn der junge Vorsitzende Theo Waigel stand vor seinem ersten großen Auftritt als Aschermittwochsredner am größten Stammtisch der Welt in Passau. Der Nachfolger von Strauß meisterte die Herausforderung mit Bravour und er sollte wenige Monate danach beweisen, dass die CSU mit Waigel als Vorsitzendem im Prozess der deutschen Einheit eine zentrale Rolle spielte. Damit wurde die Diskussion um die Bedeutung der CSU in Deutschland vorerst beendet.

Befeuert wurde diese Debatte auch von einer Erscheinung am äußersten rechten Rand des Parteienspektrums – den Republikanern. Sie hatten sich rechts außen etabliert und sogar in einigen Landesparlamenten Mandate gewonnen. Die Bonner „Politastrologen“ hatten Erwin Hubers Satz so interpretiert, als wolle die CSU ihre „rechte Kante schärfen“, um die Rechtspopulisten zu bekämpfen. Der starke Wille zum Missverständnis offenbarte sich einmal mehr. Erwin Huber sprach von Meinungsführerschaft und die Medien von Deutungshoheit. Die Fakten sprachen aber für sich: Die CSU zog einen scharfen Trennungsstrich zu den Republikanern. Sie übernahm keine Inhalte der Rechten, sondern arbeitete die drängenden Themen ab, die u.a. die Flüchtlingswellen befeuerten, die der Balkankrieg in Ex-Jugoslawien auslöste.

Grundlegendes Missverständnis zwischen Politik und Medien

Das Beispiel dieser Tage vor dem ersten politischen Aschermittwoch ohne Strauß steht für ein Phänomen, das auf ein grundlegendes Missverständnis zwischen Politik und Medien hindeutet. Sie sind wie zwei „kommunizierende“ Röhren, deren Flüssigkeitssäulen ein stark unterschiedliches Fließverhalten aufweisen. Die Medien brauchen jeden Tag neue Nachrichtenfluten, um ihre Produkte an die Konsumenten zu bringen. Jedoch kann die Politik nicht im selben Tempo liefern. Sie ist gerade in einer Demokratie ein sehr zähfließender Strom. Jedes neue Projekt muss die Klippen der innerparteilichen Willensbildung überwinden, dann die parlamentarischen Hürden – Anhörungen und Lesungen – nehmen und eventuell auch noch vor der Länderkammer, dem Bundesrat, bestehen. Daraus entsteht das grundlegende Missverständnis zwischen den Akteuren von Politik und Medien. Die Medien übermitteln ihren Konsumenten nicht, dass der politische Prozess bereits das eigentliche Produkt der Politik ist. Vor diesem Hintergrund stellt die Hochgeschwindigkeitsära der medialen Nachrichtengebung alle Akteure vor immer größere Probleme, die sie nicht befriedigend lösen können. Internet, Facebook, Twitter und Co. haben Gesellschaft, Wirtschaft und Politik mit ihren immer schneller folgenden Innovationsschüben tiefgreifend verändert. Die digitale Welt hat die Gesetze des „Marktes“ gründlich umgekrempelt. Galt in der Wirtschaft der Grundsatz „Der Große frisst den Kleinen“, heißt es jetzt „Der Schnelle frisst den Langsamen“. Die Parallele zur Politik ist kaum zu übersehen. Unternehmen und ihre Produkte kämpfen auf dem Markt um Akzeptanz. Ähnliches gilt auch für den Markt der Meinungen und politischen Ideen. Die öffentliche Akzeptanz entscheidet über Wahlerfolge. Wer nicht oder nur am Rande wahrgenommen wird, verliert.

Positionslichter zur Orientierung inmitten der Informationsflut?

Dabei kann die Frage, ob die Digitale Revolution ein Fortschritt ist, kaum seriös mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden. Der kundige Navigator wird sich in den unendlichen Weiten des Datennetzes mit Informationen bereichern, während das Gros der Binnenschiffer kaum in die ertragreichen Regionen des Internets vordringen und sich schlimmstenfalls via Social Media in den „Echo-Kammern“ der Gleichgesinnten verfangen. Diese Entwicklung stärkt den Willen zum Missverständnis ungemein.

Deshalb wächst die Gefahr, dass weite Teile der Gesellschaft sprichwörtlich „overnewsed but underinformed“ werden. Die Informationsflut des Internets kann nicht kanalisiert werden. Deshalb werden über kurz oder lang Fragen auf die politische Agenda drängen, wie informationelle Positionslichter gesetzt werden können und wie im digitalen Zeitalter eine informationelle Grundversorgung der Zukunft geschaffen werden kann, wie sie das Bundesverfassungsgericht schon 1961 in seinem Urteil zum so genannten „Adenauer-Fernsehen“ forderte.

Der Negativtrend zum „overnewsed but underinformed“ lässt sich selbst an traditionellen, „seriösen“ Nachrichtensendungen festmachen. Dort dominieren oft Inszenierung und Dramaturgie die journalistische Darstellung bis hin zum Aktionismus der „Brennpunkt“- und „Extra-Sendungen“. Dabei wird der Nachrichteninhalt durch die Form ersetzt. Was ist die Nachricht, wenn ein TV-Reporter vor dem Bundeskanzleramt steht und zur besten Sendezeit mit dramatischem Unterton in der Stimme „berichtet“, dass die Koalitionsparteien „hinter verschlossenen Türen um einen Kompromiss ringen“? Die Nachricht, dass die Koalitionsrunde tagt und nach einer gemeinsamen Linie sucht, füllte bereits den ganzen Tag über die Nachrichtensendungen. Aber der Nachrichten-Knochen ist noch nicht völlig abgenagt. Der Journalist übermittelt den Zuschauern nur eine Botschaft: Er ist dran am Geschehen. Je nach Wettersituation gibt es noch die Zusatzinformation, dass ein Mensch vor dem Kanzleramt steht, nass wird und/oder friert. Aber dran ist nicht drin!

Schein und Wirklichkeit – die Inszenierung von Politik

Jeder Zuschauer sollte sich einmal spaßeshalber empirisch betätigen und sich auf die Suche nach solchen Scheinnachrichten machen. Auf die Spitze wird die News-Dramaturgie getrieben, wenn sich Korrespondenten bei größeren Katastrophen aus Ländern melden, die nur an die betroffenen Regionen grenzen. Damit wird das dramaturgische Prinzip des „correspondent on location“ überstrapaziert.

„Wo es auf den Wirklichkeitssinn nicht mehr ankommt, triumphiert der Möglichkeitssinn“, schrieb Robert Musil in seinem unvollendeten Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Der Satz passt, als spräche der Autor über die aktuelle Situation mit digitalen Scheinwirklichkeiten und den berühmt-berüchtigten „Fake News“. Dabei starb der österreichische Romancier 1942 im Genfer Exil. Sein Satz gewinnt an Aktualität und lässt sich gut auf die aktuellen Trends im politischen Prozess anwenden: Alle Politiker wissen um die Zwänge einer Konsensgesellschaft. Verhandlungen, Vermittlungen und das Ringen um einen Ausgleich der Interessen schnüren ihre Souveränität ein. Anstatt kraftvolle Lenker der Staatsgeschäfte zu sein, sind sie in der Realität zu einem Moderatoren-Dasein verurteilt. Damit enttäuschen sie aber selbst geweckte Erwartungen des Wahlvolks.

Die Folge ist, um in der Sprache Robert Musils zu bleiben, Politik wird in „Parallelaktionen“ inszeniert – beispielsweise in Personaldebatten und langen Entscheidungsprozessen über die Besetzung von Führungspositionen in Parteien. Darüber zu berichten ist sehr viel einfacher, als komplexe Themen darzustellen, wie etwa die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie und den fossilen Brennstoffen. Die Schlagzeile über den Ausstieg aus der herkömmlichen Energiegewinnung lässt sich schnell und gut vermarkten. Die mühsame Suche nach Alternativen braucht aber mehr Raum, als in den meisten Medien zur Verfügung steht.

Am Ende erleben Medienkonsumenten Politik als Veranstaltung, die nicht in der Lage ist, ihre Ziele zu erreichen. Der Gedanke, ob dieses Faktum auch ein Treiber für die oft zitierte „zunehmende“ Politikverdrossenheit ist, drängt sich geradezu auf. Die Hochgeschwindigkeitsära der Nachrichtenwelt und die schier endlose Flut von Nachrichten, Mutmaßungen und Verschwörungstheorien aus den Weiten des Internets machen es den Menschen tagtäglich schwerer, die Orientierung zu behalten. Möglicherweise entgeht ihnen dadurch ein klarer Blick auf die Wirklichkeit, da sie wie die Menschen in Platons Höhlengleichnis sind, das er Sokrates in seiner „Politeia“, dem Werk über den idealen Staat, erzählen lässt. Die Menschen sehen in der Höhle schemenhafte Gestalten, die sich an der Wand bewegen. Sie ahnen nicht, dass sie nur die Projektion ihrer eigenen Schatten sind.