Die Konstituierung der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag

 

"Die damalige CSU-Fraktion war ein getreues Abbild Bayerns. Keine der Nachkriegsparteien war ja so dicht 'vor Ort' verankert wie die Christlich-Soziale Union. Keine repräsentierte so deutlich alle Teile des Landes, die Regionen, die Stämme, die Konfessionen, die Schichten der Bevölkerung. Ich studierte die Lebensläufe der Abgeordneten. Im bayerischen politischen Personal überwogen deutlich die 'kleinen Leute'."

Zitiert nach: Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931ff., München 2011, S.189

Eine Verfassung für Bayern

Vorbereitungen

Bereits am 9. Februar 1946 hatte die amerikanische Militärregierung in Bayern den von ihr eingesetzten Bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (SPD) beauftragt, einen kleinen Ausschuss zur Vorbereitung einer künftigen Bayerischen Verfassung zu bilden. Er berief dazu einen überparteilichen “Vorbereitenden Verfassungsausschuss“, dem neben acht Politikern (von der CSU Hans Ehard, Anton Pfeiffer und Karl Scharnagl) auch der Staatsrechts-Professor Hans Nawiasky angehörte. Das Gremium beriet in 14 Sitzungen einen Verfassungsentwurf, den Hoegner bereits im Exil entworfen hatte.

Auch der „Bayerische Beratende Landesausschuß“ ging auf eine Idee Hoegners zurück. Der Ausschuss trat am 26. Februar 1946 zum ersten Mal zusammen. Ihm gehörten 128 Mitglieder an, die von gesellschaftlichen Gruppen (Parteien, Kirchen, Gewerkschaften) vorgeschlagen und von der Staatsregierung berufen wurden.

Verfassunggebende Landesversammlung

Am 30. Juni 1946 kam es zur landesweit ersten freien Wahl: Die Wähler waren aufgerufen, über die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Landesversammlung zu entscheiden. 72,1% der Wahlberechtigten nahmen ihr Recht in Anspruch und wählten 180 Mitglieder der Landesversammlung. Eindeutiger Sieger war die CSU mit 58,3% der Stimmen und 109 Sitzen; es folgten die SPD mit 28,8% (51 Sitze), die KPD mit 5,3% (9 Sitze), die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV) mit 5,1% (8 Sitze) und die FDP mit 2,5% (3 Sitze).

Die Verfassunggebende Landesversammlung konstituierte sich am 15. Juli. Am gleichen Tag wurde ein Verfassungsausschuss mit 21 Mitgliedern gewählt, von denen die CSU 12, die SPD 6, die Kleinparteien je ein Mitglied stellten. Nach zehn Sitzungen mit intensiver Diskussion wurde der vom Verfassungsausschuss erarbeiteter Vorschlag am 20. September 1946 von der "Verfassunggebenden Landesversammlung" mit großer Mehrheit angenommen und der amerikanischen Militärregierung, die auf ihre Gestaltung massiv Einfluss genommen hatte, zur Billigung vorgelegt. Nach weiteren Modifizierung nahm die Landesversammlung am 26. Oktober die neue, dritte Verfassung des modernen Bayern an. Für den Verfassungstext stimmten 136, dagegen 14 Abgeordnete. Dem folgte die Genehmigung durch den stellvertretenden amerikanischen Militärgouverneur für Deutschland, Lucius D. Clay.

Landtagswahl und Volksentscheid

Erstmals seit 1932 fand am 1. Dezember 1946 wieder eine freie und geheime Wahl zum Bayerischen Landtag statt. Dabei konnten die CSU 52,3%, die SPD 28,6%, WAV 7,4%, KPD 6,1 % und die FDP 5,6 % der Stimmen erringen. Im neuen Landtag, der 180 Sitze umfasste, stellte die CSU mit 104 Sitzen die stärkste Fraktion, während auf die SPD 54, WAV 13 und die FDP 9 Sitze entfielen. Die KPD war nicht vertreten, da sie auf der Regierungsbezirksebene an der Zehnprozentklausel scheiterte.

Gleichzeitig mit der Wahl wurde ein Volksentscheid durchgeführt, in dem 70,6% der Wahl­berechtigten dem Entwurf der neuen Bayerischen Verfassung zustimmten. Ministerpräsident Hoegner fertigte die Verfassung am 2. Dezember 1946 aus. Mit der Verkündigung im Gesetz- und Verordnungsblatt der Bayerischen Landesregierung am 8. Dezember trat sie in Kraft.

Konstituierung der CSU-Fraktion und des Landtags

Bevor der Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, berief der CSU-Vorsitzende Josef Müller die 104 gewählten Abgeordneten nach München. Die Konstituierung der Fraktion und die Wahl des Fraktionsvorstandes fand am 9. Dezember 1946 im "Fraktionssaal" des Wirtschaftsministeriums in der Prinzregentenstraße 28 statt. Das Protokoll der Sitzung dokumentiert einen recht nüchternen, routinierten organisatorischen Ablauf bei der Konstituierung. Der zu erwartenden emotionale Aspekt einer ersten Konstituierung nach der nationalsozialistischen Diktatur hatte bereits im Juli stattgefunden, als sich die Fraktion nach der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung erstmals zusammenfand.

Die Konstituierung des Bayerischen Landtags fand am 16. Dezember 1946 im Beisein des amerikanischen Militärgouverneurs Walter J. Muller statt. Zum Landtagspräsidenten wurde der CSU- Abgeordnete Michael Horlacher (1946-1950) gewählt, der schon als Präsident der Verfassunggebenden Landesversammlung fungiert hatte. Nach der Abgabe eines Rechenschaftsberichts über seine 15-monatige Regierungszeit trat Ministerpräsident Wilhelm Hoegner aufgrund des Wahlergebnisses vom 1. Dezember zurück, führte aber bis zur Bildung einer Regierung die Amtsgeschäfte weiter. Diese bildete sich mit der Wahl von Hans Ehard (1946-1954) am 21. Dezember, nachdem zuvor der CSU-Vorsitzende Josef Müller im ersten Wahlgang gescheitert war. Im ersten Kabinett Ehard, einer "Regierung der Konzentration aller aufbauwilligen Kräfte" aus CSU, SPD und WAV, erhielt die CSU vier von neun Ministerien und stellte zusätzlich neun von dreizehn Staatssekretären. Den Vorsitz in der CSU-Landtagsfraktion übernahm Alois Hundhammer (1946-1951), der bis Januar 1950 auch die Funktion des Bayerischen Kultusministers ausübte.

Stimmen aus der Fraktion (1946) - Keine langatmigen Reden!

Aus der konstituierenden Sitzung am 9. Dezember 1946:

"Die Entscheidung wird in engen Gremien vorbereitet; ich kann sie nicht der Majorität überlassen, wo dann die Einzelheiten nicht geprüft werden können, wo die Leidenschaften hochgehen. Die Landesversammlung könnte auf diesem Gebiet beschließen, was sie will; denn letzten Endes muß die Fraktion den Ministerpräsidenten bestimmen. Das ist die Aufgabe der Fraktion. Darin darf die Fraktion nicht entrechtet werden. Die Fraktion, die Abgeordnetet, sind das demokratische Moment; die Partei hat bloß die politische Richtlinie zu geben." (Alois Hundhammer)
"Eines möchte ich zur Richtschnur für alle Zeiten haben: Keine langatmigen Reden in der Fraktion!" (Michael Horlacher)
"Wenn also so verfahren wird, wenn die Einigkeit nicht durch Kompromisse begründet wird, sondern durch die Unterordnung unter den Willen der Mehrheit der Fraktion, wenn jeder aus eigenem Willen und aus eigener Kraft heraus dazu beiträgt, die Einigkeit zu begründen, dann steht sie auf festen Füßen." (Georg Stang)
"Das ist es, was wir durchsetzen müssen. Ich glaube, hier handeln wir einmal anders, wie die Demokraten von 1918 und wie die Demokraten von 1919. Haben wir den Mut zu einer wirklichen Demokratie! Wenn wir diesen Mut haben, dann wird uns das Schicksal weiterhelfen!" (August Haußleiter)
"Männer und Frauen, man verlangt von uns, daß, das Gesicht der UNION nicht nur in der Propaganda, nicht nur auf den Wahlplakaten, sondern auch in der praktischen Politik sich endlich einmal ausprägt." (Gerhard Kroll)
" [...] kann ich nicht von den örtlichen Fällen ausgehen. Wenn sich zwei Pudel irgendwo in Bayern ineinander verbissen haben, kann ich nicht die ganze Politik danach ausrichten. Ich mus sie vielmehr allein nach den vernunftgemäßen Erwägungen ausrichten, die das Gebot der Zeit und die Rücksichtnahme auf Gegenwart und Zukunft erfordern. Das ist unsere Aufgabe." (Michael Horlacher)

 

Konstituierung der CSU-Fraktion in der Verfassunggebenden Landesversammlung

Die erste Konstituierung der CSU-Fraktion hatte bereits nach der Wahl zur  Verfassunggebenden Landesversammlung am Mittag des 15. Juli 1946 im Münchner Rathaus stattgefunden, noch vor der Konstituierung der Verfassunggebenden Landesversammlung, die für den Nachmittag des selben Tages in der Aula der Münchner Univeristät angesetzt war. Der Landesvorsitzende der CSU, Josef Müller, eröffnete die Sitzung um 11.45 Uhr. Er richtete eindringliche Worte an die gewählten CSU-Abgeordneten und Fraktionsmitglieder:

Sehr geehrte Damen und Herren, Abgeordnete des bayerischen Volkes, liebe Parteifreunde.

Als Landesvorsitzender der Union eröffne ich die erste Sitzung der Fraktion der Volksverteter, die der Union angehören. Nach zwölfjähriger Pause des demokratischen Lebens hatte unser Volk nunmehr wieder Gelegenheit, durch freie Wahl seinen politischen Willen zu bekunden. Sie sind durch diese freie Wahl zu Vertretern des bayerischen Volkes bestellt worden.
Der Weg zur Freiheit war schwer und leidvoll. Ich möchte nicht viel Worte über den Mann verlieren, den man unwillkürlich den Namen des leibhaftigen Gott-sei-bei-uns geben möchte. Man möchte diesen Namen ein für allemal vergessen, wenn er nicht so namenloses Elend über unser Volk und über unsere Heimat  gebracht hätte. Sie, meine Herren, werden schwer arbeiten müssen, um all dieses Elend wieder auszutilgen. Aber wenn Sie auch noch so schwer arbeiten müssen und wenn der Weg noch so steil sein wird, die Opfer, die Sie zu bringen haben, gleichen nicht jenen Opfern, die andere brachten, welche einmal unseren Reihen angehörten. Sie starben für jenen Mann, oft gegen ihren Willen, aber sie starben zuletzt doch für unsere Freiheit. Wenn wir heute die Möglichkeit haben, eine neue, so Gott will, bessere Demokratie aufzubauen, dann wollen wir die Opfer dieser Männer nicht vergessen. Wir wollen ihrer gedenken, die auf dem Wege zur Freiheit Opfer des Tyrannen wurden. Ich bitte Sie, sich zu Ehren der Toten zu erheben. -----
Mögen ihre Opfer nicht umsonst gebracht sein! Möge unser Volk aus dem lernen, was hinter uns liegt. Lernen müssen wir aber auch schon  aus den Fehlern jener Jahre, die dem nationalsozialistischen Regime voraus gingen. Schon damals wurden entscheidende Fehler gemacht, Fehler, die man in ihrer Tragweite nicht ganz überblicken konnte, Fehler konstruktiver Art, die in der Verfassung selbst begründet waren. Aber über begangene Fehler zu reden, hat nur dann einen Sinn, wenn wir den aufgeschlossenen Willen haben, aus ihnen zu lernen. Es ist Ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, wie der rechte Weg in die Zukunft gefunden werden kann. Sie sind bestellt als Abgeordnete, Sie sind für die Union gewählt. Wir können noch nicht übersehen, inwieweit das Vertrauen Ihrer Person gilt oder unserer Partei. Das eine aber müssen Sie wissen: Sie sind Vertreter des Volkes in seiner Gesamtheit. Sie haben stets die Interessen aller Bewohner Ihres Kreises im Auge zu behalten und die Interessen des ganzen Bayernlandes. Es wird das manchmal akut sein zu bedenken, wenn Sie als freie Abgeordnete zu entscheiden haben, inwieweit Sie sich im Rahmen der Fraktion binden, wenn zur Frage steht, inwieweit Sie sich der Fraktionsdisziplin unterwerfen wollen.

Viele an sich wertvolle Begriffe sind durch das vergangene Regime restlos verbraucht worden. So haben Worte wie Disziplin und Autorität beinah ihren Sinn verloren, wir müssen ihnen erst wieder einen neuen Inhalt geben. Sie werden auch in der Fraktion als freie Männer entscheiden müssen und es wird die Kunst der Führung sein, dafür zu sorgen, daß Sie möglichst wenig in Ihren Entscheidungen gebunden werden. Zwang soll nur dort angesetzt werden, wo irgendeine Zwangsherrschaft im Entstehen begriffen ist. Zwang muß zur Seltenheit werden. Wir können eine einheitliche Willensentscheidung nur dann verlangen, wenn es um höchste Werte geht, wie um die Kulturgüter, um den Bestand des Vaterlandes und der Heimat, und wenn es gilt, Front zu machen gegen das Aufkommen neuer Diktaturgelüste. Sonst wollen wir möglichst wenig Zwang und möglichst selten das Wort Disziplin gebrauchen. Wir müssen so zusammenwirken, daß nicht eine Majorität eine Minorität majorisiert. Hier können uns die Vereinigten Staaten zum Vorbild dienen, wo die New-Dealer des Nordens neben den Konservativisten des Südens im Kongreß sitzen und in den großen Belangen ihres Landes zusammenarbeiten. Es wird so sein, daß wir in den Tagesfragen unsere Meinung nicht immer auf einen Nenner bringen können.
Widerstehen Sie in solchen Fällen der Versuchung, sich immer und unter allen Umständen persönlich durchsetzen zu wollen. Das würde nur die Union gefährden. Als Vertreter des Volkes dürfen Sie auch nicht immer bloßen Zweckmäßigkeitsgedanken Rechnung tragen. Vielleicht ist die Demokratie seinerzeit daran zugrunde gegangen, daß soviel Interessenpolitik getrieben und so wenig die großen Linien eingehalten wurden. Es muß deshalb der Interessenkampf, auch der Ständekampf, aus der Union ausscheiden. Die Union ist mehr wie eine Zusammenfassung einzelner Ständegruppen. Sie, meine Herren, sind Vertreter des bayerischen Volkes.

Wir alle lieben unser Bayerland. Aber Sie werden sich gleichzeitig auch als Vertreter des im Werden begriffenen deutschen Vaterlandes fühlen. Wir sprechen viel von der Wirtschaftseinheit Deutschlands. Jeder weiß, daß sie eine absolute Notwendigkeit ist. Wenn die Zonengrenzen nicht fallen, gehen wir in den Weg ins Chaos. Darüber hinaus wird ein neuer Nationalismus entstehen und die schönste Verfassung wird nicht verhindern können, daß extreme Elemente Nutznießer der Verzweiflung unseres Volkes werden. Sorgen Sie deshalb dafür, daß die Heimat wieder in Ordnung kommt. Aber sorgen Sie auch dafür, daß das deutsche Vaterland nicht Schaden leidet. Mit Bangen verfolgen wir die Vorgänge in Paris. Noch sind wir Objekt der großen Politik. Sie können aber dafür sorgen, daß ein geordnetes Bayern entsteht und dieses wieder deutsche Politik macht, und daß wir so wieder einmal Subjekt im Rahmen der Politik werden. Wir können kein Interesse daran haben, daß die Großmächte untereinander in Konflikt geraten. Wir müssen es ganz offen sagen: Nur Narren und Verzweifelte können heute einen Krieg wollen. Unser Bestreben aber muß es sein, alle Kräfte einzusetzen, daß der Friede gewahrt wird. Seien Sie Apostel des Friedens in der Innenpolitik und sorgen Sie so, daß unser Volk auch wieder zum Frieden mit anderen Völkern kommt.

Wenn auch dann und wann Schwierigkeiten mit der Besatzungsmacht auftreten, so handelt es sich dabei meistens um kleine örtliche Reibereien. Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Es ist eine dringende Notwendigkeit, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Sie ist seinerzeit nicht freiwillig zu uns gekommen. Wir haben sie Hitler zu verdanken. Aber nun ist sie einmal da. Und unsere Besatzungsmacht verdient volle Anerkennung dafür, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes für die Menschheitskultur gekämpft hat. Sie hat keine territorialen Interessen. Aber wir müssen es verstehen, daß sie, nachdem sie ihr Opfer an Gut und Blut gebracht hat, ein Interesse daran hat, daß bei uns wieder Ordnung entsteht. Wir müssen und wollen deshalb loyal mit ihr zusammenarbeiten und von  uns aus mit allen Kräften für Ordnung sorgen.

Möge bald wieder die Brücke zwischen den Völkern geschlagen werden! Sie, meine Damen und Herren, sind in erster Linie berufen, an diesem Brückenschlag aktiv mitzuhelfen.
Die Verfassung muß ein Werk für den Frieden werden. Wenn sie da und dort nicht entspricht, dann, meine Freunde, wollen wir als ehrliche Demokraten sagen: Dann schaffen wir etwas neues. Wir sind eine neue Gruppierung, eine Einigung aller, die
konstruktiv aufbauen. Dann machen wir selbst Schluß mit allen Phrasen, dann wollen wir nicht gute Ideale verbrauchen, indem wir sie in den Tageskampf ziehen. Wir haben stets davon auszugehen, daß das große Ganze im Vordergrund stehen muß: Unser Volk und unser Vaterland. Alles übrige kommt in zweiter Linie.

Wenn Sie guten Willen haben, werden Sie Erfolg haben. Gott segne Ihren Willen, Gott gebe Ihrer Arbeit Segen und Erfolg.
(Auszug aus dem Sitzungsprotokoll vom 15. 7.1946: ACSP, NL Müller Josef: B 14)