Kann ein kleiner Reißnagel einen großen Hintern bewegen? – Volksbegehren und Volksentscheide in Bayern

Gerhard Hirscher

Die neue Verfassung des Freistaats Bayern 1946 sah die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid vor. In Art. 74 ist auch heute der Ablauf geregelt. Diese Instrumente wurden im Laufe der Jahrzehnte mehrfach genutzt – und nicht selten kamen diese gegen den Willen der Regierungspartei CSU zustande. Oft wurden sie von Oppositionsparteien initiiert oder von Gruppierungen, die damit Vorschläge oder Gesetzesentwürfe der Regierungspartei CSU konterkarieren wollten. Hat das der CSU in Bayern aber langfristig wirklich geschadet?

Seit 1967 wurden in Bayern 21 Volksbegehren zugelassen und durchgeführt. Es begann 1967 mit einem CSU-kritischen Volksentscheid über die christliche Gemeinschaftsschule, die zwar ebenso abgelehnt wurde wie der CSU-Entwurf einer christlichen Volksschule, was aber eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Konfessionsschule in Gang brachte, in der auch die CSU ihre Positionen allmählich den geänderten Vorstellungen großer Teile der Bevölkerung anpasste. Im Jahr 1972 kam ein Volksbegehren zur Rundfunkfreiheit zustande, das der CSU einen Kompromiss in der Gesetzgebung zu diesem Thema abnötigte. Zwei Volksbegehren 1977, zur Lernmittelfreiheit und zur Zusammensetzung des Bayerischen Senats, scheiterten am Quorum. Danach war für Jahre offenbar kein vertiefter Bedarf mehr für dieses Element der direkten Demokratie.

Ausweitung der direkten Demokratie

Ab den 1990er-Jahren und vor allem in den letzten Jahrzehnten hat sich das aber geändert. Das Volksbegehren „Das bessere Müllkonzept“ 1990 war gegen einen späten Gesetzesentwurf der CSU nicht erfolgreich, konnte aber inhaltlich indirekt Einfluss nehmen. Im Jahr 1995 kam es zu einem spektakulären Erfolg von „Mehr Demokratie in Bayern“, das mit ihrem Volksbegehren erweiterte direktdemokratische Möglichkeiten auf Gemeinde- und Kreisebene durchsetzte, was den damaligen Vorstellungen der CSU nicht entsprach. Seither wurde dieses Instrument immer wieder genutzt; es wurden schon weit über 2.000 Bürgerbegehren initiiert. Ebenso erfolgreich war 1997 das Volksbegehren „Schlanker Staat ohne Senat“, was – ebenfalls entgegen der Präferenzen der CSU – die Abschaffung der in Bayern noch existierenden zweiten Kammer des Parlaments zur Folge hatte.

Mit diesen beiden Referenden war ein einstweiliger Höhepunkt der direktdemokratischen Mitwirkung auf Landesebene erreicht. In den folgenden Jahren kamen sieben Vorschläge nicht zur Abstimmung, weil das notwendige Quorum nicht erreicht wurde, wobei „Aus Liebe zum Wald“ 2004 nur knapp scheiterte. Dieser Rückgang mag aber auch daran gelegen haben, dass mittlerweile, als Ergebnis des Volksbegehrens von 1995, zahlreiche kommunale Referenden zugelassen und durchgeführt wurden.

Nach 2009 kam es in Bayern aber wieder zu erfolgreichen neuen Volksbegehren. So wurde im Jahr 2009 – ebenfalls gegen den Willen der CSU – ein strikter Nichtraucherschutz als Folge eines erfolgreichen Volksbegehrens umgesetzt. Dies geschah 2010 in einem vom Landtag initiierten Volksentscheid, in dem er, wie 1998 beim Volksentscheid zum Senat und 1995 zum kommunalen Bürgerentscheid, mit klarer Mehrheit von der Bevölkerung angenommen wurde. Vier Jahre später wurden ebenfalls als Resultat eines Referendums die Studiengebühren in Bayern abgeschafft. Ein Volksbegehren zur Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 scheiterte zwar 2014 am Quorum, aber indirekt hat es sicher zur späteren Entscheidung der Staatsregierung, das G8 wieder abzuschaffen, mit beigetragen.

Einen weiteren und bisher letzten Höhepunkt erreichten die landesweiten Referenden mit dem Volksbegehren „Artenvielfalt und Naturschönheit in Bayern“, das Anfang 2019 auch unter dem Titel „Rettet die Bienen!“ bekannt wurde. Dieses erreichte einen Rekordwert von 18,4% der Wahlberechtigten, die sich für das Begehren eintrugen. Daraufhin entschloss sich die Staatsregierung, den Inhalt des Volksbegehrens weitgehend unverändert als Gesetzesentwurf zu übernehmen. Dies war der letzte, aber wohl spektakulärste Fall einer Anpassung der Programmatik der Regierungspartei CSU an ein ursprünglich von ihr nicht unterstütztes Vorhaben.

Mehr Nutzen als Schaden für die Volkspartei

Auch wenn Referenden nicht immer direkt zum Erfolg führen, haben sie doch fast immer den Charakter eines Seismographen. Wenn für einen Volksentscheid schon einmal eine entsprechende Anzahl von Unterstützern vorhanden ist, die die Exekutive dazu zwingen, die Amtsstuben zur Eintragung von unterstützenden Unterschriften zu öffnen, werden Parteien und Politiker immer hellhörig – ob sie das Begehren unterstützen oder nicht. Natürlich haben in den vergangenen Jahrzehnten immer Oppositionsparteien oder ihnen nahestehende Gruppierungen versucht, mit den Instrumenten der direkten Demokratie die "ewige" Regierungspartei CSU zu provozieren oder sie zu desavouieren. Der Nutzen hielt sich für diese Akteure aber zumeist sehr in Grenzen. In den vergangenen Jahrzehnten hat dieses in der Verfassung des Freistaats Bayern verankerte Instrument der CSU jedenfalls nicht geschadet. Auch die Volksentscheide, die man kurzfristig als Niederlagen der CSU interpretiert hat, erwiesen sich letztlich für die Regierungspartei CSU als vorteilshaft: Unbequeme, auch innerparteilich umstrittene Themen konnten so „abgeräumt“ werden. Diese Referenden haben also die Stellung der CSU nicht untergraben, sondern waren eher ein Ventil, in dem die Wähler ihren Unmut äußern und in konkrete Forderungen zu einzelnen Politikfeldern umsetzen konnten. Dies könnte auch in Zukunft so sein, allerdings nur bei Themen, die ohnehin über eine nennenswerte positive Unterstützung in der Bevölkerung verfügen. In Zeiten, in denen die CSU in Koalitionen regiert, könnte dieses Instrument aber auch an Bedeutung verlieren: Viele Initiativen gingen in der Vergangenheit von Oppositionsparteien aus oder wurden von ihnen unterstützt, die damit der mit absoluter Mehrheit regierenden CSU öffentlich etwas entgegensetzen wollten. Ob das künftig bei (aktuellen oder potentiellen) Koalitionspartnern, die die CSU möglicherweise brauchen könnte, auch noch der Fall sein wird, ist unklar. Das letzte Volksbegehren zur Rettung der Bienen fand vor dem Hintergrund eines rasanten Bedeutungszuwachses des Megathemas Umwelt und Klima statt. Ob sich in absehbarer Zeit ein anderes Thema anbietet, steht in den Sternen.

Volksbegehren und Volksentscheide – Stärkung der Demokratie, Kräftigung der Volkspartei

Die Instrumente der direkten Demokratie in Bayern haben nicht nur der Demokratie genutzt, sie haben auch die Stellung der CSU als dominanter Regierungspartei eher gestärkt. Das hat sich in den letzten Jahren auch in den Einstellungen der Parteimitglieder widergespiegelt: So wurde auf dem CSU-Parteitag im November 2016 eine Forderung nach Volksentscheiden auf Bundesebene angenommen, die auch im neuen Grundsatzprogramm aufgenommen wurde. In einer entsprechenden Mitgliederbefragung, an der sich über 52.000 Menschen beteiligt hatten, hatten sich 68,8% dafür ausgesprochen. Dies unterstreicht, dass Elemente der direkten Demokratie im Land wie im Bund auch von den Mitgliedern der Volkspartei CSU als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie gesehen werden.