Politisches Handeln im Spannungsverhältnis zwischen Normen oder Nutzen – Hanns Seidel

Reinhard Meier-Walser

Hanns Seidel (1901-1961) leitete als neugewählter Vorsitzender der CSU 1955 umgehend die Modernisierung, Neuorientierung und Neuorganisation der CSU ein und schuf damit die Basis für deren Aufstieg zur Mehrheitspartei. Nachdem die CSU 1954 in Bayern in die Opposition geraten war, engagierte er sich auch intensiv für eine programmatische Fundierung der CSU-Politik, die in dem neuen Grundsatzprogramm vom 1. Juni 1957 mündete.

Pragmatiker und Staatsmann

Der Bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende war weniger ein Mann des tagespolitischen Tauziehens als vielmehr ein weitblickender Stratege und Staatsmann, in dessen Wirken sich pragmatischer Realitätssinn mit normativ geprägten Visionen verbanden. Für den Politiker Seidel war es eine geistige Notwendigkeit, sich jenseits der Routinegeschäfte des politischen Alltages mit Grundsatzfragen von Politik und Gesellschaft zu befassen. Der Schlüssel zum Verständnis seines politischen Handelns findet sich deshalb in seiner Weltanschauung, welche maßgeblich durch die sozio-historischen und sozio-ökonomischen Bedingungen der Weimarer Republik geprägt wurde. In den Krisenjahren der damaligen Zeit reifte sein Entschluss zur aktiven politischen Mitarbeit und er gewann angesichts der sowohl geistigen als auch materiellen Notsituation „die Überzeugung, dass das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht nach rein zweckmäßigen und pragmatischen Richtlinien zu ordnen ist“. Die Kunst der Politik im Sinne der platonischen Staatslehre bestehe stattdessen darin, Regeln für politisches Handeln aufzustellen, die sich an allgemeinen, übergeordneten Prinzipien orientieren.

Christliche Weltanschauung als politischer Kompass

Diese Prinzipien glaubte der Katholik Seidel in der christlichen Weltanschauung zu finden. Gerade wegen der von ihm perzipierten zunehmenden Verweltlichung der Gegenwart verknüpfte er mit dem Glauben an Gott eine verhaltenssteuernde politische Funktion. Der Staat, so Seidel, sei keineswegs die Quelle allen Rechts, sondern an eine höhere Ordnung, an Gottes Gebot, gebunden. Mit dem Postulat, nach Grundsätzen einer christlichen Verantwortung und nicht nach abstrakten Prinzipien ethischer Gesinnung zu handeln, verband er auch die Glaubwürdigkeit und Rechtfertigung einer christlichen Weltanschauungspartei, die er in seinen Reden und Schriften vehement gegen Kritik von verschiedenen Seiten verteidigte.

Nur wenn die christliche Weltanschauungspartei durch Funktions- und Mandatsträger verkörpert werde, die in der Politik nicht nur „eine Gelegenheit zur Ausübung von Macht“ sähen, sondern überzeugt seien, dass „es keine Diskrepanz zwischen Weltanschauung und praktischem Handeln geben darf, daß vielmehr Politik ein Auftrag ist, dessen Vollzug am Ende der Tage verantwortet werden muß“, könne eine christliche Weltanschauungspartei ihren normativen Wertmaßstäben entsprechen und ihre selbstgestellten, ethisch fundierten Ziele glaubhaft verfolgen.

Während Seidel einen engen Zusammenhang zwischen christlicher Weltanschauung und Politik insofern sah, als er das politische Handeln einer christlichen Weltanschauungspartei als einen vor Gott zu verantwortenden Auftrag verstand, machte er gleichzeitig den Unterschied zwischen christlicher Weltanschauung und Religion deutlich, zumal Letztere „vom Glauben her mit einer völligen Bindung der Menschen an Gott bestimmt“ werde. Seit jeher ein entschiedener und eminenter Verfechter des Gedankens einer politischen Union zwischen Katholiken und Protestanten, die jenseits zahlreicher religiöser Unterschiede das gemeinsame Fundament christlicher Weltanschauung verbinde, lehnte er das Verständnis einer christlichen Partei als Kirchenpartei ab. Ebenso nachdrücklich wandte er sich angesichts der pluralistischen Gesellschaft gegen einen konfessionell gebundenen, katholischen oder evangelischen Glaubensstaat. Christliche Politik basiere stattdessen auf dem Wissen, dass dem Staat „keine grenzenlose Macht über die Seelen der Menschen eingeräumt werden darf und daß deshalb das christliche Gewissen gegen die Gefahr der Vergewaltigung durch den Staat gesetzt werden muß“. Auch wenn an der Spitze des Staates katholische oder protestantische Politiker stünden, so präzisierte Seidel in seiner Regierungserklärung vom 5. November 1957, werde die Staatsgewalt, die sie ausübten, „dadurch nicht katholisch oder protestantisch; oder anders ausgedrückt: auch wenn das persönliche Tun der im Staatswesen tätigen Menschen das Handeln katholischer oder evangelischer Christen ist, an dem Zuständigkeitsbereich und dem Charakter der staatlichen Funktionen wird dadurch nichts geändert“.

Spannungsfeld zwischen Normen und Interessen

Bemerkenswert ist, dass der Pragmatiker Seidel ungeachtet seiner Forderung, die Ziele politischen Handelns vor dem Hintergrund einer christlichen Weltanschauung zu setzen, sehr klar das Spannungsfeld der Politik zwischen normativen Geboten der Ethik und Weltanschauung einerseits und Erwägungen des machtpolitischen und ökonomischen Nutzens andererseits erkannte. Wir wissen genau, so verdeutlichte er in seiner Rede vor der Landesversammlung der CSU am 7. Juli 1957 in Nürnberg, dass sich „politische Entscheidungen häufig im Raume der Zweckmäßigkeit vollziehen und daß überall da, wo eine echte weltanschauliche Problematik ausscheidet, sich das Zweckmäßige, das Sachgerechte und das Nützliche durchzusetzen hat“. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Erkenntnis des Vorhandenseins eines für die Politik charakteristischen Spannungsverhältnisses zwischen Normen und Nutzen, aber auch, weil er während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die verhängnisvollen Folgen politischen Machtmissbrauchs erlebt hatte, unterstrich Seidel immer wieder die Notwendigkeit einer christlich geprägten „weltanschaulichen Richtschnur“. Eine derartige normative Orientierung sei sowohl im Interesse der Parteien selbst als auch im Interesse der Allgemeinheit wertvoller als die „rein technische, von weltanschaulichen Vorstellungen losgelöste Beherrschung der Macht, die […] die Sonne ihrer politischen Weisheit über gerechte und ungerechte Herrscher leuchten läßt“. Seidel sah, so sein Nachfolger im Parteivorsitz der CSU, Franz Josef Strauß, in einer Würdigung aus dem Jahre 1987, „daß eine Politik ‚nur aus der Welt und für die Welt‘ unausweichlich in Orientierungslosigkeit und Sinnleere abgleitet, daß die richtige Wegweisung für die Herstellung des Gleichgewichts zwischen Staatsmacht und Menschenwürde nur aus der Religion kommen kann“.

Der deutlichste Beleg dafür, dass er im Glauben an Gott eine verhaltenssteuernde politische Funktion erkannte, findet sich in einer rhetorischen, sich selbst mit „Nein“ beantwortenden Frage, die Hanns Seidel in seiner Rede vor der Landesversammlung der CSU am 13. Juni 1959 in München stellte: „Kann in einem Jahrhundert, das so viele Diktatoren hervorgebracht hat, das die Massengesellschaft entstehen ließ und das die individuelle Überlegenheit haßt, weil es die Gleichmacherei liebt, kann in einem solchen Zeitalter auf den Grundsatz verzichtet werden, daß der Staat keineswegs die Quelle allen Rechts ist und daß auch er an eine höhere Ordnung, insbesondere an Gottes Gebot gebunden ist?“

Literatur

Alle Zitate Seidels aus: Hanns Seidel, Weltanschauung und Politik. Ein Beitrag zum Verständnis der Christlich-Sozialen Union in Bayern, München 1960.

Reinhard Meier-Walser, Hanns Seidel – Politisches Denken zwischen ethischer Norm, wissenschaftlicher Analyse und pragmatischem Realitätssinn, in: Alfred Bayer, Manfred Baumgärtel (Hrsg.), Weltanschauung und politisches Handeln. Hanns Seidel zum 100. Geburtstag, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2001, S. 117-134.

Franz Josef Strauß, Hanns Seidel – „Ein Leben für Bayern“, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Hanns Seidel – „Ein Leben für Bayern“, München 1987, S. 17-28.

Christian Seidel, Maximen eines bayerischen Politikers. Politische Anschauungen Dr. Hanns Seidels, unveröffentlichtes Manuskript, 1968, in: ACSP, PS Hanns Seidel.