Zwischen Löwe und Adler: Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag

Thomas Schlemmer

Als die CSU 1945 gegründet wurde, stand keineswegs fest, dass sie sich zu einer autonomen Landespartei entwickeln würde. Immerhin gab es prominente Mitbegründer wie Josef Müller und Adam Stegerwald, die in der CSU den bayerischen Landesverband einer künftigen „Reichsunion“ sahen, von der etwa Landesgeschäftsführer August Wilhelm Schmidt am 25. Februar 1946 im Vorläufigen Landesausschuss der CSU sprach. Die Weichen wurden jedoch schon früh anders gestellt. Damit stand aber auch die Frage auf der Tagesordnung, wie die Partei in übergeordneten parlamentarischen Gremien auftreten sollte. Nach der ersten Bundestagswahl im August 1949 standen der CSU drei strategische Optionen offen: die Bildung einer eigenen Fraktion, eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU oder eine Arbeitsgemeinschaft mit anderen föderalistischen Parteien wie der Deutschen Partei und der Bayernpartei.

Eigene Fraktion oder Fraktionsgemeinschaft?

Eine eigene Fraktion hätte sicherlich die größtmögliche Bewegungsfreiheit geboten und der CSU die besten Chancen eröffnet, sich gemäß ihrem Selbstverständnis als eigenständige Partei zu präsentieren. Zudem gab es für eine solche Lösung namhafte historische Vorbilder. So hatte die Bayerische Patriotenpartei nach 1871 im Reichstag eine eigene Fraktion gebildet, und auch die Bayerische Volkspartei (BVP) hatte sich 1920 entschlossen, die Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum aufzulösen. Mit dieser Entscheidung hatte sich die BVP im Reichstag allerdings selbst isoliert und ihre Abgeordneten mehr oder weniger zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Diese Erfahrung sprach für eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Schließlich verstand sich die CSU trotz mancher Vorbehalte als Teil der Union, und man hatte bereits im Frankfurter Wirtschaftsrat und im Parlamentarischen Rat Erfahrungen mit einer solchen Fraktionsgemeinschaft sammeln können. Als dritte Option bot sich eine Arbeitsgemeinschaft aller föderalistischen Kräfte unter Führung der CSU an. Das vergiftete Verhältnis von CSU und Bayernpartei machte die Verwirklichung dieser Idee jedoch von vornherein schwierig bis unmöglich

Ein zukunftweisender Kompromiss

Überraschenderweise wählten die Bundestagsabgeordneten der CSU jedoch keine von diesen Möglichkeiten, sondern entschieden sich für eine Kompromisslösung, die die Vorteile einer eigenen Fraktion mit den Vorteilen einer Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU verbinden sollte. In diesem Sinne wurde beschlossen, eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU einzugehen, aber zugleich einen eigenen Vorstand zu wählen, eigene Sitzungen abzuhalten und sich so als organisatorisch weitgehend unabhängige Landesgruppe innerhalb der gemeinsamen Bundes­tagsfraktion zu konstituieren. Eine verdeckte Vorform dieser speziellen CSU-Lösung hatte es schon im Wirtschaftsrat und im Parlamentarischen Rat gegeben. In Frankfurt war es Franz Josef Strauß gewesen, der die Zügel in die Hand genommen und eine eigene Sitzordnung für die Abgeordneten der CSU durchgesetzt hatte, und auch die Repräsentanten der bayerischen Unionspartei im Parlamentarischen Rat waren darauf bedacht gewesen, trotz ihrer Mitgliedschaft in der gemeinsamen Fraktion eine gewisse Eigenständigkeit zu wahren.

Die Bundestagsabgeordneten der CSU schlossen sich im Sommer 1949 auf Initiative des ehemaligen BVP-Vorsitzenden Fritz Schäffer zu einer eigenen Landesgruppe zusammen, bevor sie mit ihren Kollegen von der CDU eine Fraktionsgemeinschaft eingingen. Diese Fraktionsgemeinschaft wurde bisher nach jeder Wahl erneuert, wobei sich die Landesgruppe stets politische und personelle Zugeständnisse verbriefen ließ. Um möglichst unabhängig von der gemeinsamen Bundestagsfraktion agieren zu können, schuf sich die Landesgruppe bereits in den 1950er-Jahren einen eigenen organisatorischen Unterbau, der in der Folgezeit Zug um Zug ausgebaut wurde. Der Status der Landes­gruppe erreichte nach der Bundestagswahl von 1976 seine endgültige Ausprägung, als der Plan von Franz Josef Strauß und Fritz Zimmermann, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzulösen, zwar scheiterte, die Führung der CSU aber durchsetzen konnte, dass die politische Parität der Unionsparteien festgeschrieben wurde.

Eine schlagkräftige Truppe

Die Schlüsselstellung der Landesgruppe im Bundestag hatte weniger mit der Zahl der CSU-Abgeordneten zu tun als mit der Tatsache, dass die Landesgruppe ihre Interessen zumeist geschlossen verfocht und in Konflikten mit der CDU zudem das Potenzial einer eigenständigen Partei in die Waagschale zu werfen vermochte. Der Landesgruppe gelang es auf diese Weise, Sach- und Personalentscheidungen stärker zu beeinflussen, als es Wahlergebnisse und Fraktionsstärken vermuten lassen. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang das Amt des Landesgruppenvorsitzenden, der zugleich als erster stellvertretender Vorsitzender der Gesamtfraktion fungierte; Franz Josef Strauß, Richard Stücklen, Hermann Höcherl und Friedrich Zimmermann nutzten dieses Amt ebenso als Sprungbrett für hohe Staats- und Parteiämter wie später Theo Waigel, Wolfgang Bötsch, Michael Glos oder Peter Ramsauer. Bei der Wahl der Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele war die Landesgruppe nicht zimperlich. Konrad Adenauer klagte schon früh, man könne sogar mit den Gewerkschaften noch leichter verhandeln als mit den bayerischen Parteifreunden. Die oft hemdsärmelige, ja herausfordernde Art, mit der vor allem Franz Josef Strauß gegenüber der CDU auftrat, schlug tiefe Wunden und schürte Revanchegelüste in der gemeinsamen Fraktion.

Die Landesgruppe als innerparteilicher Machtfaktor

Der CDU auf Augenhöhe zu begegnen, war für die CSU-Bundestagsabgeordneten freilich nur die eine Seite. Nicht weniger wichtig war es, in der eigenen Partei als einflussreicher, möglichst autonomer Faktor der innerparteilichen Willensbildung aufzutreten. Eine solche Entwicklung war nicht unbedingt im Sinne mancher Münchner Parteigrößen, die in der Landesgruppe gerne so etwas gesehen hätten wie ein föderalistisches Sprachrohr und Vollzugsorgan von Staatsregierung und Parteiführung. Die Landesgruppe war jedoch von Anfang an nicht bereit, sich in ein solches Korsett zwängen zu lassen. Sie wachte im Gegenteil eifersüchtig über ihre Selbständigkeit, verbat sich allzu weitgehende Einmischungsversuche und gestattete sich das Recht auf eine eigene Meinung, auch wenn diese den Parolen zuwiderlief, die in München ausgegeben wurden.

Hüterin des Föderalismus

Als parlamentarische Vertretung einer föderalistischen Landespartei war die Landesgruppe früh zu einem oft schmerzhaften Spagat zwischen Bundes- und Landespolitik gezwungen. Dabei mussten sich die Bundestagsabgeordneten der CSU bei strittigen Entscheidungen von ihren Münchner Parteifreunden nicht selten anhören, die Interessen Bayerns nicht nachdrücklich genug zu vertreten. Franz Josef Strauß thematisierte diesen Konflikt bereits im Juni 1950 und definierte zugleich das Föderalismus­verständnis der Landesgruppe, wie im Protokoll der seinerzeit in Kempten zusammengekommenen Landesversammlung zu lesen ist: „Man würde den Ruf des bayerischen Föderalismus, als dessen Vorkämpfer in Bonn die CSU [...] bekannt ist, zerstören, wollte man von unseren Freunden in dieser Position eine einseitige, auf Bayern orientierte Politik verlangen, die das Ansehen des Föderalismus im übrigen Deutschland zerstören würde. [...] Ein Mann, der als Finanzminister, als Wirtschaftsminister oder als Ernährungsminister für die Schicksale der Bundesrepublik verantwortlich ist, ist für alle Länder und ist für den Bund da. Wenn er diese Aufgabe als Bayer, als CSU-Mann, als Föderalist wahrnimmt, dann wahrt er damit die Bedeutung und das Ansehen, das Bayern im gesamtdeutschen Ablauf zukommt. Man darf nicht verwechseln, daß ein Bundesminister nicht ein bayerischer Oberinspektor ist, der dort kleinliche Interessen zu vertreten hat, ein Bundesminister ist ein Mann, der als Bayer gesamtdeutsche Aufgaben im Rahmen der föderalistischen Zielsetzung zu vertreten hat.“

Die Landesgruppe verstand (und versteht) sich, mit anderen Worten, als Hüterin des Föderalismus in der Bundeshauptstadt und versuchte zugleich, stets so viel wie möglich für Bayern herauszuschlagen, ohne dabei aber das Bundesinteresse aus den Augen zu verlieren. Eine andere Haltung hätte sie sowohl in München als auch in Bonn oder Berlin unglaubwürdig gemacht und damit ihrer Handlungsspielräume beraubt. Zentrale Konfliktfelder waren immer wieder die Hochschul-, Kultur-, Steuer-, Finanz- und Europapolitik. Die CSU spielte bei diesen Auseinandersetzungen häufig geschickt mit verteilten Rollen und kritisierte von München aus wählerwirksam Entscheidungen, die sie im Bund durch die Landesgruppe mitgetragen hatte. Das Organisationsprinzip der von einer eigenständigen Landespartei gedeckten Landesgruppe hat sich als Erfolgsmodell erwiesen und wesentlich dazu beigetragen, dass der bundespolitische Einfluss der CSU auch nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit gewahrt blieb.

Literatur

Günter Buchstab, Ein parlamentarisches Unikum: die CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 255-274.

Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1972, bearb. von Andreas Zellhuber und Tim B. Peters, Düsseldorf 2011.

Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1972-1983, bearb. von Volker Stalmann, Düsseldorf 2019.

Alf Mintzel, Die Rolle der CSU-Landesgruppe im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Studien Sonderheft 1/1989, S. 113-134.

Günter Müchler, CDU/CSU. Das schwierige Bündnis, München 1976.

Thomas Schlemmer, Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998.

Petra Weber, Föderalismus und Lobbyismus. Die CSU-Landesgruppe zwischen Bundes- und Landespolitik 1949 bis 1969, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Bayern im Bund, Bd. 3: Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, München 2004, S. 23-116.