Gerhard Kroll: Lebenslauf von 20.8.1910–1.3.1932

bearbeitet von Maria Edin-Kroll

[Gerhard Kroll hinterließ mehrere handschriftliche Lebensläufe. Der vorliegende aus seiner Studienzeit wurde vor seinem Diplomexamen 1932 verfasst. Seine Tochter Maria Edin-Kroll bearbeitete ihn im Rahmen einer Familiengeschichte.]

 

Herkunft

Am 20. August 1910 wurde ich, Gerhard Kroll, als Sohn des Kaufmanns Hermann Kroll und seiner Ehefrau Gertrud geb. Poser zu Breslau geboren. Mein Vater, der wenig Neigung zu kaufmännischer Tätigkeit hatte, vielmehr einen nicht zu beruhigenden Drang zum Dichten und Dramenschreiben in sich verspürte, starb anderthalb Jahre nach meiner Geburt und ließ meine Mutter und mich in völlig ungeordneten Verhältnissen zurück. Die Schulden übertrafen bei weitem das vorhandene Vermögen und meine Mutter sah sich genötigt, sich und mich durch ihrer Hände
Arbeit zu ernähren. Sie eröffnete eine Schneiderwerkstätte, die immerhin soviel abwarf, dass wir sogar die furchtbaren Kriegsjahre verhältnismäßig glimpflich überstehen konnten.Im Jahre 1916 wurde ich auf eine Volksschule in Breslau getan und begann mich in den Schulkünsten zu üben. Anfänglich mit geringem Erfolge, verstand es meine Mutter sehr bald in mir Ehrgeiz wach zu rufen, und meine Lehrer rieten nach 4-jährigem Schulbesuch ernsthaft, mich in ein Gymnasium zu stecken.

 

Schule und Abitur

Ich stand diesem Plane mit mehr Begeisterung gegenüber als meine arme Mutter, die keine Logarithmentafel brauchte, um ihre kümmerlichen Ersparnisse zusammenzurechnen, die nie und nimmer einen so kostspieligen höheren Schulbesuch ermöglicht hätten. Mein damaliger Rektor aber, ein Mann von einem starken Willen, durchbrach die Schranken bürokratischer Vorschriften und ermöglichte meine Aufnahme ohne Schulgeldzahlung zwar nicht in das Gymnasium, sondern in die kath. Realschule am Nicolaistadtgraben. Vom Gymnasium war meine Mutter im letzten Augenblick abgekommen, sie fürchtete - und wie sich später herausstellte mit Recht -, dass ihr wilder Sohn an dem - wie sie damals sagte - "trockenen Latein" nicht den rechten Genuss finden könnte.

Die Verpflanzung in die vornehmere Umgebung bekam mir anfangs schlecht, ich wackelte mühsam in der Sexta um die Klippen der Versetzung herum, erholte mich in Quinta mühsam, wurde in Quarta seetüchtig und segelte in Tertia ein wenig auf und davon. Erst war heftige Angst vor den vielen fremden Dingen, nachher merkte man plötzlich, dass die anderen keinesfalls klüger, höchstens frecher waren und dem konnte man schon nachhelfen. Mit dem Primus der Klasse angefreundet entdeckt man, dass auch so ein Wundertier seine Schwächen hat und verdrängt ihn, zwar ein wenig knapp, aber immerhin doch so, dass es ihm bis zum Abitur nicht mehr gelang, die knappe Spanne zu verringern.

In Tertia war noch einmal eine große Gefahr für meine Ausbildung aufgetreten. Trotz aller Unterstützungen, die meine Mutter durch Erziehungsbeihilfe, Wohlfahrtsunterstützung u.s.w. bekam, war sie am Rande ihrer finanziellen und gesundheitlichen Kräfte. Die viele Nachtarbeit im Krieg hatte ihre Augen verdorben, die Ersparnisse waren aufgezehrt. Ein geschicktes Regiewunder des Himmels befreite sie und mich für absehbare Zeit aus den schlimmsten Nöten. Meine Mutter verheiratete sich wieder und zwar mit einem Lokomotivheizer, dessen geringes Gehalt zwar auch keine Luftsprünge gestattete, aber bei vorsichtiger Finanzgebarung, und in dieser Beziehung ist meine Mutter noch heute unübertrefflich, ermöglichte es neben einer winzigen Reorganisation des Haushalts auch noch meinen weiteren Schulbesuch. Es wurde gespart und an allen Enden ein bisschen abgezwackt.

 

Der Weg an die Universität

Trotzdem war an ein Studium mit diesen Voraussetzungen niemals zu denken. Deshalb wäre ich in Obersekunda auch beinahe dem Wunsch meines Stiefvaters gefolgt und hätte die Schule verlassen, um als letzter Beamtenanwärter bei der Reichsbahn einzutreten oder um die Kaufmannschaft mit einem neuen Lehrling zu beglücken, wenn mich nicht eben in Obersekunda eine unwiderstehliche Neigung zu politischen Dingen gepackt hätte, die mich veranlasste, unter allen Umständen meinem Lieblingslehrer, der zugleich im Nebenberuf Abgeordneter war, weiter nach Prima zu folgen. Sein Deutsch- und Geschichtsunterricht waren für die ganze Klasse Offenbarungsstunden. Die wildesten Diskussionen wurden entfesselt und die Begeisterung fand oft keine Grenzen. Immer mehr traten für mich die Wirtschaftsfragen in den Vordergrund. Mein Wunsch, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, wurde in Obersekunda bereits geboren.

Allerdings blieb es zunächst ein frommer Wunsch. Ich getraute mir ihn anfangs nicht ernstlich meinen Eltern vorzutragen, einigen Tanten letzter Linie trug ich ihn zwar entschlossen vor, aber bloß, weil gerade diese über meine und meiner Eltern Finanzverhältnisse nicht sonderlich gut Bescheid wussten. Doch nachdem ich mich einmal in dieser furchtbaren Anmaßung erprobt hatte, tat ich dasselbe auch vor meinen Eltern. Diese waren darüber so erstaunt, dass sie sogar die Frage vergaßen, die ich so sehr fürchtete, nämlich "Ja, aber woher willst du denn die Mittel nehmen?" Was ich vorerst brauchte, war jedoch ihre prinzipielle Einwilligung, verbunden mit dem Versprechen eines Monatszuschuss für die Dauer des Studiums in der schwankenden Höhe von 30-50 Mark (je nach Bedarf!)-

Nunmehr begann eine Finanzierungsperiode schlimmster Art. Ein Abkommen mit meinen Lehrern sicherte mir Stundenschüler auf unbegrenzte Zeit. Einmalige Zuschüsse von Tanten und Onkels, viele Leute wurden zwangsweise in dieses Verwandtschaftsverhältnis zu mir versetzt, trugen mir Summen zwischen 5 und 50 Mark ein. Da ich mein Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte, so fiel es mir nicht schwer aus allen Bekannten das Letzte herauszuholen. Das erste Semester konnte beginnen!

 

Studium in Breslau, Wien und Berlin

Allerdings ließ ich mich verleiten, sowohl Jura als Nationalökonomie zu studieren, d.h. von jedem Gebiet mangels größerer Mittel nur eine Vorlesung zu belegen. An dieser Stelle muss noch eingefügt werden, dass infolge eines Versehens mir die Studienstiftung verschlossen blieb, das Gesuch war von meiner Schule, die inzwischen zur Oberrealschule aufgebaut worden war, (ich war im zweiten Abiturientenjahrgang) verspätet abgeschickt worden und wurde nicht mehr angenommen. Meinem Direktor tat das furchtbar leid und er tat etwas, was Direktoren im allgemeinen eher selten zu tun pflegen, er schenkte mir 100 Mark als Entschuldigung. Ich glaube, damals war ich nicht wenig beglückt und pfiff wohl das Lied vom Spatzen in der Hand – denn die Studienstiftung war zu meiner Abiturientenzeit noch ein sagenhaftes Gebilde, wenigstens in Schlesien, und ihr traute man nicht recht.

Auch das 2. Semester verbrachte ich in Breslau, finanziert wurde es mit ähnlichen Mitteln. Allerdings hatte ich noch eine besondere Hilfe. Unter Vermittlung meines früheren Deutschlehrers war es mir gelungen, mit verschiedenen Vereinen in Breslau einen Vertrag abzuschließen, dem zufolge ich eine Reise nach Frankreich unternahm, die mich über Paris nach Marseille führte und über die ich dann in den Vereinen Vorträge hielt. Dabei ergab sich sogar ein kleiner Reingewinn, der mich (Grammatikfehler im Original) noch obendrein ausgezahlt wurde. Im nächsten Jahr machte ich dasselbe Kunststück und fuhr so nach England.

Das 3. Semester studierte ich in Wien, außer den sonstigen Reisen verlockten mich vor allem die niedrigen Lebenshaltungskosten in Österreich. Während ich in den ersten Semestern fast keine Zeit zum Studium hatte, das Stundengeben und sonstige Erwerbstätigkeiten kleinen Stils beanspruchten meine Zeit völlig, begann ich in Wien ernsthafter zu arbeiten. Ottmar Spann mit seiner faszinierenden Redeweise lenkte mich zwar vom Studium der Jurisprudenz völlig ab, dafür wuchs mein Interesse an den großen sozialen Problemen um so mehr.

Mein Wunsch war, im nächsten und alle folgende Semester nach Berlin zu gehen, dem Eldorado der Wissenschaft. Es lockten mich nicht nur die vielen berühmten Namen (Sombart), sondern auch das intuitive Fühlen, in Berlin wird die beste und gründlichste Arbeit geleistet, dort lernst Du am meisten, verstärkte den Wunsch nach Berlin ungeheuer. Ungeheuer waren aber auch die Schwierigkeiten, die es hierbei zu überwinden galt. Kurz und gut, sie wurden beiseite geräumt und am 15. Oktober 1930 rollte mein Zug am Schles. Bahnhof ein.

In der Universität war ich über die ungeheure Masse an Studierenden nicht sonderlich entzückt, aber an so etwas gewöhnt man sich. Jetzt nachdem ich das dritte Semester hier bin, kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen, wie man sich anderorts auf die Dauer wohlfühlen kann. Schon im dritten Semester interessierten mich von allen Problemen aus dem Gebiet der theoretischen Nationalökonomie am meisten das Krisenproblem und im Zusammenhang damit besonders die Geld- und Währungsfragen. Aus diesem Grunde erlaube ich mir auch die Herren Professoren, die mir meine Aufgabe für die 6. Wochenarbeit stellen werden, zu bitten, mir ein Thema aus diesem Gebiet geben zu wollen.

 

Vor der Diplomprüfung

Als nächster einschneidender Tatbestand in meinem Leben schiebt sich nun langsam die Diplomprüfung heran. Ich glaube, es gibt kaum einen Kandidaten, der ihr nicht mit einem gewissen Unbehagen entgegensieht. Ich erlaube mir hier, freimütig zu bekennen, dass das Unbehagen ein kleineres wäre, wenn man in den Seminaren mehr Gelegenheit haben würde, sein Wissen zu kontrollieren. Leider sind die finanziellen Verhältnisse eben so grundschlecht, und ich glaube, das wissen gerade die Studierenden der Nationalökonomie, insbesondere diejenigen, die sich für Finanzwissenschaft interessieren, nicht am schlechtesten, dass an eine Verbesserung dieses Zustandes etwa durch Verkleinerung der Seminarteilnehmerzahl nicht zu denken ist. Viele Studenten, und zu denen gehöre ich auch, wünschen sich wenigstens zum Zwecke der Prüfung eine weiter gebildete Form des Schulbetriebes, der einem eine bessere Kontrolle über sein eigenes Wissen ermöglichen würde.

Sodann aber möchte ich auch gleich noch ein zweites bekennen. Ich selbst empfinde die Dauer meines intensiven Studiums als nicht sonderlich lang. Meine schlechten finanziellen Verhältnisse zwangen mich jedoch, mich jetzt schon unbedingt zur Prüfung zu melden. Sollte ich die nötigen Kenntnisse noch nicht besitzen und durch mein möglicherweise eintretendes Misslingen meines Examens der geehrten Prüfungskommission unnötige Arbeit bereiten, so bitte ich die Herren Professoren schon jetzt mit reuigem Gewissen um Entschuldigung.