Als die Zwergschulen verschwanden und das Gymnasium auf’s Land kam – Bildungsexpansion und Bildungsreformen der sechziger Jahre

Paula Bodensteiner

Die bayerische Wirtschaft war Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend zusammengebrochen, die Wirtschaftstätigkeit auf allen Gebieten drastisch gesunken. Dazu musste Bayern auch noch rd. zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene unterbringen. Nach der Währungsreform im Jahr 1948 verbesserte sich die wirtschaftliche Lage trotz der sehr ungünstigen Ausgangsbedingungen grundlegend und überraschend schnell. Bayerns Umbau von einem Agrar- zu einem Industriestaat nahm rapide an Fahrt auf und verstärkte sich in den sechziger Jahren.

Diese tiefgreifenden Entwicklungen konnten nicht ohne nachhaltigen Einfluss auf die bayerische Bildungslandschaft bleiben. Die technischen Herausforderungen stiegen, Bayerns Wirtschaft wurde internationaler, die Verbesserung des Bildungssystems und auch der Bildungschancen wurde zur Priorität auf der politischen Agenda. Im Grundsatzprogramm der CSU von 1968 fanden diese Herausforderungen sehr prägnant ihren Niederschlag: „Bildung und Ausbildung müssen Schwerpunkt der staatlichen Investitionen sein. Zusammen mit Wissenschaft und Forschung sind sie die Grundlage unserer Entwicklung.“

Schulreformen

Die Zeit der Schulreformen begann verstärkt in den sechziger Jahren. Zu Beginn der Amtszeit von Ludwig Huber als Kultusminister
(1964-1970) im Kabinett Goppel gab es in Bayern 8.346 Volksschulen, davon waren 1.558 ungeteilt, d.h. alle Schüler von der 1. bis zur 8. Klasse wurden in einem Raum unterrichtet, eine heute kaum noch vorstellbare Situation. Ursächlich für diese auf Dauer nicht tragfähige und auch nicht zukunftsfähige Struktur war zum einen die in Art. 135 der Bayerischen Verfassung normierte Bekenntnisschule als Regelschule, vor allem aber auch das Schulorganisationsgesetz von 1950, das grundsätzlich die „dorfeigene Schule“ festlegte. So verständlich der Wunsch der einzelnen Kommunen nach einer eigenen Volksschule war, in der die Kinder vor Ort und ohne allzu weite Schulwege unterrichtet werden konnten, der Reformbedarf lag auf der Hand.

Das sog. Hamburger Abkommen vom Oktober 1964, das eine bundesweite Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens zum Ziel hatte, sah deshalb u.a. die Unterteilung der Volksschulen in Grund- und Hauptschulen vor, was in Bayern ab 1966 umgesetzt wurde. Als Folge wurde aber die Notwendigkeit immer größer, Art. 135 der Bayerischen Verfassung den gewandelten Bedürfnissen und Ansprüchen an ein modernes Bildungssystem anzupassen. Mit dem Volksentscheid vom 7. Juli 1968 wurde die konfessionelle Trennung der Volksschulen beendet; dies galt auch für die Volksschullehrerausbildung. Zudem gingen die 1958 für die Ausbildung der Volksschullehrerinnen und –lehrer gegründeten Pädagogischen Hochschulen im Jahr 1970 in den Landesuniversitäten auf.

Die Auswirkungen der politischen Entscheidungen jener Zeit waren gewaltig und sehr nachhaltig. Als Hans Maier im Dezember 1970 sein Amt als Bayerischer Kultusminister antrat, existierten in Bayern (nur) noch 3.245 Volksschulen, bis zum Jahr 1980 sank deren Zahl auf unter 3.000 Schulen.

Neugründungen und massiver Ausbau von Realschulen und Gymnasien

Die Realschulen (bis 1965 Mittelschulen) blieben in ihren Strukturen während der sechziger Jahre weitgehend unverändert. Um aber jedem Schüler die Möglichkeit zu bieten, eine weiterführende Schule zu besuchen und um auch die steigende Nachfrage zu befriedigen, wurden allein zwischen 1964 und dem Schuljahr 1969/70 bayernweit 59 Realschulen zusätzlich aufgebaut und 35 weitere geplant. Damit änderte sich auch die Struktur bei der Trägerschaft. Im Schuljahr 1948/49 gab es neun kommunale und 66 private und kirchliche Mittelschulen, im Schuljahr 1964/65 102 kommunale und private Realschulen, aber bereits 122 öffentliche Realschulen. Die Schülerzahlen stiegen in diesem sehr beliebten Schulzweig entsprechend rapide an.

Wesentlich einschneidendere Veränderungen ergaben sich im Gymnasialbereich. Die durch Theodor Maunz im Jahr 1964 erfolgte „Bekanntmachung über den Neuaufbau des höheren Schulwesens in Bayern“ legte dafür  – wie bei den Realschulen  – die entscheidende Grundlage. In der Folgezeit führte die organisatorische Neuregelung zu folgenden sechs Schultypen: „Das Humanistische Gymnasium, das Neusprachliche Gymnasium anstelle des Realgymnasiums, das Mathematisch-Naturwissenschaftliche Gymnasium anstelle des Deutschen Gymnasiums, das Wirtschaftsgymnasium anstelle der Wirtschaftsoberrealschule und das Sozialwissenschaftliche Gymnasium für Mädchen.“ Damit war nicht nur den individuellen Bildungswünschen umfassend Rechnung getragen, diese Differenzierung des gymnasialen Angebots wurde auch der fortschreitenden Industrialisierung und Internationalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft in Bayern gerecht. Ein weiterer Aspekt, auf den die gerade in den ländlichen Gebieten Bayerns verankerte CSU immer besonderen Wert legte und auch heute noch legt, war die Vermeidung bzw. der Abbau des Stadt-/Land-(Bildungs-)gefälles. Anfang 1960 gab es noch viele Gebiete in Bayern, in denen es kaum weiterführende Schulen gab.

Eine Welle von Gymnasialgründungen kam in Gang, die sich über Jahre über ganz Bayern erstreckte. Ministerpräsident Alfons Goppel führte dazu im Rahmen einer Regierungserklärung im Bayerischen Landtag am 7.11.1968 aus: „Wir haben in wenigen Jahren mehr höhere Schulen gegründet als früher in einem Jahrhundert entstanden sind.“ Die Zahlen dokumentieren die gewaltige quantitative Expansion. In der Amtszeit von Kultusminister Ludwig Huber entstanden innerhalb von nur sechs Jahren in Bayern 70 neue Gymnasien und zudem die bereits erwähnten 69 Realschulen. Damit wurden auch kleinere Städte in den ländlichen Regionen mit höheren Schulen ausgestattet, was die Bildungschancen gerade in strukturschwächeren Regionen nachhaltig förderte.

Dieser massive staatliche Schulausbau hatte nicht zuletzt strukturelle Folgen. Auch wenn die Bayerische Staatsregierung große Anstrengungen unternahm, die traditionellen Privatschulen, vor allem die vielen Klosterschulen, in ihrem Bestand zu erhalten, konnte dieses Ziel auf Dauer nicht erreicht werden. Kultusminister Hans Maier äußerste dazu: „So sehr diese Entwicklung gerade in einem privatschulfreundlichen und den Gründungen kommunaler Träger aufgeschlossenem Land wie Bayern zu bedauern ist, so ist sie  – historisch betrachtet  – letztendlich doch eine langfristige Auswirkung des Säkularisierungsprozesses im Bildungswesen“ (Lehning S.982).

Nachhaltig waren auch die Auswirkungen des Schulausbaus auf das Humanistische Gymnasium, da die Schulneugründungen weitgehend neusprachliche bzw. mathematisch-naturwissenschaftliche Einrichtungen zur Folge hatten: Besuchten zu Beginn der sechziger Jahre noch rund 26% der bayerischen Gymnasiasten ein Humanistisches Gymnasium, waren es gegen Ende der siebziger Jahre nicht einmal mehr 8%. Tendenz: Weiter fallend.

Der rasche Ausbau von Gymnasien und Realschulen und die stark ansteigenden Schülerzahlen erforderten einen gewaltigen finanziellen Kraftakt und belasteten die öffentlichen Haushalte des Freistaates wie auch der Kommunen. Hinzu kam ein eklatanter Lehrermangel ab Mitte der 1960er-Jahre, der sich naturgemäß nicht kurzfristig beheben ließ. Ferner erwuchs aus einem „Schülerberg“ schließlich eine „Studentenlawine“, die folgerichtig zu einem Gründungsboom im Hochschulbereich führte. Schon damals wurde über eine „Akademikerschwemme“ diskutiert, ein Schlagwort, das auch in jüngster Zeit wieder in der bildungspolitischen Auseinandersetzung hohe Aktualität angesichts des großen Fachkräftemangels gewonnen hat. Die damalige Diskussion mündete in ein neues Berufsschulgesetz (1972), das explizit und zum ersten Mal die Gleichwertigkeit des beruflichen gegenüber dem allgemeinbildenden Schulwesen betonte, ein wahrer Meilenstein für die Bedeutung der beruflichen Bildung und Ausbildung in Bayern.

Bildungschancen für das „katholische Mädchen aus Bayern mit Eltern aus der Arbeiterschicht“

Die völlige Umgestaltung des Volksschulwesens von nicht oder wenig gegliederten Schulen hin zu (überörtlichen) Verbandsschulen stellte eine große schulorganisatorische Leistung, aber auch einen gewaltigen politischen Kraftakt dar. Auch wenn gelegentlich der quantitative Aspekt beim Ausbau des höheren Schulwesens in Bayern zu sehr im politischen Fokus stand, so hat erst der flächendeckende Ausbau gleichwertige schulische Chancen vor allem für die Bewohner der ländlichen Regionen geschaffen. Zwar ging in den folgenden Jahrzehnten der Schulausbau weiter, wenn auch in stark vermindertem Tempo, die entscheidenden Grundlagen für die erfolgreiche Schulinfrastruktur in Bayern wurden jedoch in den sechziger Jahren gelegt.

Literatur

Norbert Lehning, Bayerns Weg in die Bildungsgesellschaft, Band II: Das höhere Schulwesen im Freistaat Bayern zwischen Tradition und Expansion 1949/50-1972/73, München 2006.

Max Liedtke (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Band III: Geschichte der Schule in Bayern von 1918 bis 1990, Bad Heilbrunn 1997.

Monika Fenn, Schulwesen (nach 1945), publiziert am 31.1.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Schulwesen_(nach_1945)  (9.3.2020).