Bayern hinterm Mond? Visionäre Industriepolitik am Luft- und Raumfahrtstandort Bayern

Maximilian Th. L. Rückert

Der Mond wäre dicht bevölkert, würden wirklich alle zum Mond geschossen werden, denen man es wünschte. Einen Großteil dieser Mondbevölkerung würden amtierende und altverdiente CSU-Politiker bilden – die meisten Mondmännchen wären also schwarz und nicht grün. Gerade die Opposition wünschte sich so manchen CSU-Spitzenpolitiker dorthin, mussten jene doch neidvoll den Aufstieg Bayerns zum Spitzentechnologiestandort mit der Faust in der Tasche bewundern. Die Luft- und Raumfahrttechnologie hat an Bayerns Industrieaufschwung von Beginn an großen, meist unterschätzten Anteil.

Die Macht der Vision

„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten, ohne, dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Hauptbahnhof in München, starten Sie Ihren Flug.“ Was hat man nicht über Edmund Stoibers Rede zum Transrapid gelacht. Wie hat man nicht Dorothee Bär als „Digibär und das Flugtaxi“ geschmäht und jüngst „Söderchens Mondfahrt“ belächelt. Visionäre Zukunftspolitik hat etwas Unglaubliches und Phantastisches an sich, was den Kritikern als Steilvorlage dient, das vermeintlich Unmögliche als Wahnsinn zu diskreditieren. Zukunftsvisionen sind jedoch notwendige Zielvorgaben für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Industriepolitik, wenn es gelingt, durch staatliche Einflussnahme seiner Zeit einen Schritt voraus zu sein.

Zugegeben, Bayern hatte 1945 nach der selbstverschuldeten Stunde Null vielversprechende Aussichten und eine begünstigte Ausgangsposition: „Die Rückständigkeit erwies sich als Vorteil“ (Thomas Schlemmer). Auf der grünen Wiese des agrarisch geprägten Landes unterblieben die späteren Belastungen durch Kohle und Stahl und bei Kriegsende siedelten sich gleich zu Beginn neue Industriezweige an, die aus der sowjetisch besetzten Zone kommend den Neuanfang suchten: Siemens, die Auto-Union (später Audi), die Allianz und HUK, selbst BMW verlegten ihre Produktion von Eisenach nach München. Bereits 1954 lag das Produktionsvolumen 74 Prozent höher als vor dem Krieg. Die angewandte Forschung als Fensteröffnung zur Zukunft, die Verbindung von Wissenschaft und Praxis als Wegbereiter eines besseren Morgens bestimmte Hanns Seidel als Kernelement seiner Industrialisierungspolitik. Persönlich kümmerte er sich mit Unterstützung seines Wirtschaftsministeriums um die Gründung der Fraunhofer-Gesellschaft (26. März 1949), gewann das Max-Planck-Institut für Würzburg und holte das Deutsches Patentamt (1. Oktober 1949) in den Freistaat. Damit legte er das Fundament für das Forschungs- und Entwicklungsland Bayern.

Das Vorbild für die zukunftsweisende Verbindung von Forschung und Entwicklung lag in der bayerischen Luftfahrt. Denn oft wird übersehen, dass schon aus der (Vor-)Kriegszeit kombinierte Forschungs- und Produktionsstätten in Bayern angesiedelt waren, und zwar aus dem Bereich der zivilen und militärischen Luftfahrt. Das renommierteste davon war das Flugfunk-Forschungsinstitut in Oberpfaffenhofen, gegründet 1937, das 1955 als „Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt Süd“ neu begann. Der mit heute rund 1.800 Mitarbeitern größte Standort der „Deutschen Versuchs- und Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt“, kurz DLR (seit 1997 mit diesem Namen), steht als Einrichtung beispielhaft und ist bayerischer Innovations-, und damit Wirtschafts-, und damit Wachstumsmotor. Gemeinsam mit Alfons Goppel baute der Flug­enthusiast Franz Josef Strauß die Luftfahrtforschung in Bayern aus, auch wenn es zeitgenössisch keiner je für möglich gehalten hätte: „Den Airbus gäbe es ohne Strauß nicht, und ohne Frankreich nicht  – in Deutschland war Strauß, der mehr oder weniger das alleine betrieben hat, während andere gesagt haben: Das wird eh nichts.“ (Otto Wiesheu)

Es war für Bayern von außerordentlichem Vorteil, dass „FJS“ Bundesfinanz- und Verteidigungsminister und Aufsichtsratsvorsitzender bei Airbus Industrie war und gleichzeitig auch ein Aufsichtsratsmandat bei Lufthansa innehatte. Durch massive Staatsbeteiligungen entwickelte sich Bayern zum Topstandort für die Luft- und schließlich auch Raumfahrtindustrie: Stolze 50 Prozent dieses Industriezweigs betrug Anfang der Achtziger Jahre im Freistaat deren Umsatz; die militärische Luftfahrt band 38 Prozent der bundesweiten Arbeitsplätze vor allem in den oberbayerischen Airbusstandorten Manching, Taufkirchen und Ottobrunn. 11 Prozent des gesamtdeutschen Umsatzes der zivilen Luftfahrt wird allein in Oberbayern erwirtschaftet. 82 Unternehmen verfügen heute in Bayern über Kompetenzen in der militärischen Luftfahrt. Insgesamt arbeiten in Bayern laut Wirtschaftsministerium derzeit rund 60.000 Menschen im Bereich Luft- und Raumfahrt.

„Auf der guten Seite der Macht“ hoch hinaus

Satelliten, Drohnen, Raketen- und Flugzeugantriebe, Kabinenausstattung, Flugzeugkraft- und -werkstoffe, Hardware- und Softwareoberflächen  – alles „Made in Bavaria“. Die Strahlkraft des leistungsstarken Industriezweigs der Luft- und Raumfahrt auf andere Technologiefelder ist enorm. Das verdeutlicht sich eindrucksvoll im Patentvergleich. Der Luft- und Raumfahrtzeugbau liegt fast gleichauf mit dem innovativen Maschinen- und Kraftfahrzeugbau – mit über einem Viertel der in Deutschland erteilten Patente. Diese Zahlen galten für 2014. Und dann kam Markus Söder und erklärte, Raumfahrt sei „ein Stück Religion“ und er verlangte mit dem Förderprogramm Bavaria One, Bayern solle zum „Space Valley“ werden. Wie viele Ministerpräsidenten vor ihm verkündete auch er: „Wir wollen die Nummer Eins auf der Welt werden.“

Sind Bavaria One und seine Vision vom Space Valley eine Bruchlandung wie Stoibers Transrapid? Mitnichten. Aus der Transrapid-Idee Stoibers ist der international gefeierte Forschungsdurchbruch Hyper Loop gelungen. Hyper Loop hat das Potenzial, das umweltfreundlichste Transportsystem der Zukunft zu werden, hält es doch unter Laborbedingungen mit 467 Stundenkilometern aktuell den Weltrekord. Waren die spottenden Flugtaxi-Memes im Internet mit der Vorstellung des ersten flugfähigen Prototyps des City-Airbus in Ingolstadt im März 2019 und der Präsentation des Lilium-Jets aus Weßling im Monat darauf abrupt verstummt, lacht heute im Jahr 2020 keiner mehr über „Söderchens Mondfahrt“. Der bekennende Star-Trek-Fan Söder, der gerne auch mal vulkanisch wie Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise grüßt, investiert 30 Millionen Euro und in den kommenden vier bis fünf Jahren 700 Millionen Euro, um mit Forschung – metaphorisch gesehen – nach den Sternen zu greifen.

Noch sind nicht der Mond und die unendlichen Weiten der Galaxie das Ziel, sondern der weiß-blaue bayerische Himmel – oder nüchterner ausgedrückt, die Stratosphäre und die Erdumlaufbahn. Bayerische Satelliten sollen die Erdoberfläche genau vermessen, um später beispielsweise der bayerischen Landwirtschaft die Big Data zu liefern, die für einen präzisen Einsatz von Dünge­mitteln sorgen können. Voraussichtlich 2020/21 nimmt die Fakultät für Luftfahrt, Raumfahrt und Geodäsie an der Technischen Universität München ihren Lehrbetrieb auf. Angesiedelt wird die Fakultät mit mehr als 55 Professuren in Taufkirchen/Ottobrunn, sowie Oberpfaffenhofen und Garching – ein Innovationsdreieck mit bestem Ruf weit über die bayerischen und deutschen Grenzen hinaus. Die gewaltige finanzielle Schubkraft beamt München auf den ersten Rankingplatz der europäischen Forschungsstandorte für Raumfahrt.

Im Fokus dieses Forschungskonjunkturprogramms steht die Verlagerung vom rein staatlich organisierten zum privatwirtschaftlichen Bereich durch Clusterpolitik (bavAIRia e.V.) und Wissenschaftstransfer, um aus phantastischen Ideen realen Wert zu schöpfen. Das Space Valley ist kein Hirngespinst, es versteht sich als „reale Standortpolitik für Bayern“, wie es Söder deutlich bodenständiger formuliert. Geodäsie statt Bavaria One. Lilium-Jet statt Flugtaxi. Hyper Loop statt Transrapid – das alles ist real statt utopisch. Aus kreativen Visionen der Bayern ist in Bayern zukunftsweisende Realität geworden.

„Ohne Kreativität gibt es keine Entwicklung“. Dieses Diktum könnte von einem CSU-Politiker stammen, aber es kommt vom außerirdischen Vulkanier Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise. „Diftor heh smusma“ ist von Mr. Spock und in der Sprache der Vulkanier (Raumschiff Enterprise, Episode: Landru und die Ewigkeit). Auf Deutsch wünschte es allerdings auch Markus Söder anlässlich der Vorstellung der High-Tech-Offensive Bayern seinem, unserem Bayern: „Lebe lang und erfolgreich!“

Literatur

Bayerns Zukunftstechnologien. Eine Studie im Auftrag der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., erstellt von der Prognos AG, München 2015.

Stephan Deutinger, Vom Agrarland zum High-Tech-Staat. Zur Geschichte des Forschungsstandorts Bayern 1945-1980, München/Wien 2001.

Luft- und Raumfahrt in Oberbayern. IHK-Studie 2015.

Thomas Schlemmer im Gespräch mit Klaus Wiegrefe, zit. nach: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bayern-csu-ueberschaetzt-ihren-anteil-am-erfolg-a-1049210.html.

Markus Söder, Rede anlässlich der Vorstellung der High-Tech-Offensive, 3. Februar 2020.

Manfred Treml, Die Geschichte des modernen Bayern, Bayerische Zentrale für politische Bildungsarbeit, München 32006.

Vgl. https://www.nordbayern.de/region/bavaria-one-soders-weltraumrakete-hebt-gemachlich-ab-1.9410609