Das „Experiment" DSU

Stephan Oetzinger

Mit der Umbruchphase in der DDR standen nicht nur die Bundesrepublik sowie die elf westdeutschen Länder vor großen Herausforderungen, auch für die bundesrepublikanischen Parteien stellte der Fall der Berliner Mauer und der damit einsetzende Einigungsprozess ein großes Problem dar. Gerade für die Christlich-Soziale Union als regionale Partei mit bundespolitischem Anspruch galt dies in besonderer Weise, wollte sie nicht an Einfluss und politischem Gewicht auf Bundesebene verlieren, wenn die Bundesrepublik durch eine sich abzeichnende Wiedervereinigung größer werden würde.

Erste Kontakte zu Oppositionskreisen der DDR

Während andere Parteien wie die Schwesterpartei CDU oder die SPD jeweils den Kontakt zu ihren ostdeutschen Gegenstücken, den Blockparteien, suchten, wählte die bayerische Unionspartei einen eigenen Weg. Seit Beginn der Montagsdemonstrationen in der DDR begannen sich zahlreiche Gruppen aus der Opposition gegen das DDR-Regime heraus zu entwickeln. Insbesondere die Gruppierungen Christlich-Soziale Partei Deutschlands (CSPD) um den evangelischen Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling, die Forum-Partei Thüringen (FPT) und die sogenannte CSU in Sachsen sind als Keimzellen der späteren Deutschen-Sozialen Union (DSU) zu nennen. Der CSU-Vorsitzende Theo Waigel ließ bereits vor dem Fall der Berliner Mauer erste Fühler in Richtung möglicher Partner im Osten ausstrecken, freilich zunächst unter dem Mantel der Verschwiegenheit und vor allem mit dem Ziel, unkontrollierte Gründungen von CSU-Verbänden in der DDR zu verhindern. Denn seitens der Parteiführung um Waigel und Generalsekretär Erwin Huber war man nicht gewillt, die eigene Partei in den Osten Deutschlands auszudehnen. Umgekehrt suchten auch neu entstehende Gruppierungen aus der DDR den Kontakt zur CSU, wobei die Koordination in einem eigenen Referat für eine Ost-CSU, dem CSU/DSU-Koordinierungsbüro in der CSU-Landesleitung in München, gebündelt wurde.

Im Kern gab es für die bayerische CSU zwei Optionen, wie man einem möglichen Bedeutungsverlust durch die Vergrößerung des Wahlgebiets Rechnung tragen konnte: Einerseits die Ausdehnung der CSU selbst in die DDR bzw. auf die dort gebildeten „neuen Länder“, andererseits die Suche nach einem geeigneten Partner, einer Schwesterpartei, die den schwindenden Einfluss in einer größeren Bundespolitik kompensieren sollte. Während sich eine Gruppe um den bayerischen Innenminister Edmund Stoiber, seine Staatssekretäre Günther Beckstein und Peter Gauweiler sowie Bundesminister Friedrich Zimmermann für eine Ausdehnung der CSU aussprachen, setzte sich Theo Waigel mit seiner Linie der Unterstützung einer zu schaffenden ostdeutschen Schwesterpartei durch.

Waigel begründete seine Linie damit, dass mit einer Schwesterpartei im Osten der Einflussverlust durch die Vergrößerung des Wahlgebiets kompensierbar sein könnte, dass es aber durch eine Ausdehnung der CSU in die DDR zur direkten Konkurrenz mit der CDU käme, was die Gefahr einer Aufsplitterung der Konservativen innerhalb der Bundesrepublik berge. Kernargument Waigels aber war, dass mit einer Ausdehnung der CSU über Bayern hinaus der Markenkern der CSU, nämlich die Identifikation der Partei mit dem Freistaat Bayern nach dem Motto „Bayern ist CSU und CSU ist Bayern“ verloren gehen würde.

Aus ersten vereinzelten Kontakten von prominenten CSU-Vertretern mit Oppositionsgruppen in der DDR folgte Mitte Dezember 1989 ein vom JU-Landesvorsitzenden Gerd Müller vermitteltes Spitzentreffen zwischen dem Vorsitzenden der CSPD Ebeling und dessen Generalsekretär Peter-Michael Diestel mit Ministerpräsident Max Streibl, Generalsekretär Erwin Huber, dem stellvertretenden Vorsitzenden Jürgen Warnke und dem Geschäftsführer der Hanns-Seidel-Stiftung Otto Wiesheu. Dabei kam man seitens der CSU zu dem Ergebnis, dass die Gruppierung um Ebeling und Diestel ein möglicher Partner für die CSU werden könnte, ohne dass man sich schon darauf festlegen wollte.

Die Gründung der DSU und die Wahlen zur Volkskammer im März 1990

Trotz inhaltlicher Differenzen ergriff man seitens der CSU die Initiative, um die bisher noch wenig koordinierten konservativen Kräfte zu einer einzigen Partei zusammenzuschließen. In Leipzig erfolgte am 20. Januar 1990 der Zusammenschluss von 13 bis dahin selbstständigen politischen Gruppen zur Deutschen Sozialen Union (DSU), wobei die von einigen Vertretern der neuen Partei gewünschte Benennung als CSU ausdrücklich von den bayerischen Vertretern abgelehnt wurde. Die neue DSU verstand sich nach den Ausführungen ihres Vorsitzenden Ebeling und des Generalsekretärs Diestel als Schwesterpartei beider westdeutscher Unionsparteien, also sowohl der CSU als auch der CDU.

Unmittelbar nach der Gründung begann die CSU, bestärkt durch einen Beschluss des Parteivorstandes und mit Blick auf den sich anbahnenden Wahlkampf zu den ersten freien Wahlen in der DDR, die frisch gebackene ostdeutsche Schwesterpartei massiv zu unterstützen. Helfen sollte eine Mischung aus materiellen und ideellen Hilfen. Neben Schulungen und Wahlkampfmaterialien war auch die Unterstützung durch Wahlkampfauftritte von CSU-Politikern vorgesehen. Die Hilfe der bayerischen Schwesterpartei wurde dann beim Gründungsparteitag am 18. Februar 1990 in der Leipziger Oper in mehrerlei Hinsicht deutlich: Das Motto war „Freiheit statt Sozialismus“, die Werbelinie der DSU übernahm das damalige grün-blau-weiße Layout der CSU und praktisch die gesamte Spitze der bayerischen Schwesterpartei gab sich bei der Gründungsveranstaltung die Ehre.

Während die programmatische Ausrichtung der DSU sehr zügig voran ging und im Wesentlichen mit dem Ziel der Wiedervereinigung einer Politik nach christlichen Grundsätzen und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft zusammenzufassen war, stellte die organisatorische Aufstellung der neuen Partei die größere Herausforderung dar. Trotz der Wahl von Vorsitzenden in allen DDR-Bezirken blieben strukturelle und administrative Schwächen weiter bestehen. So fehlten der Deutschen Sozialen Union ganz wesentliche Elemente einer funktionierenden Parteiinfrastruktur wie Büros, Kommunikationsmittel und eine tatsächlich flächendeckende Parteiorganisation.

Gerade die fehlenden administrativen Strukturen stellten für die DSU eine große Herausforderung bei der anstehenden Volkskammerwahl am 18.3.1990 dar, zu der sie gemeinsam mit der Ost-CDU und dem Demokratischen Aufbruch (DA) als Wahlbündnis Allianz für Deutschland antrat. Sollte sie Erfolg haben, war sie dringend auf die Hilfe der bayerischen Schwesterpartei angewiesen. Generalsekretär Huber kam daher auch in einem Schreiben zu dem Ergebnis: „Die DSU soll sowohl ideelle als auch materielle Unterstützung erhalten. Denn was der DSU – im Gegensatz zur SED – fehlt, ist ein halbwegs funktionierender Organisationsapparat.“

Wie alle anderen westdeutschen Parteien engagierte sich die CSU massiv im Volkskammerwahlkampf für ihre ostdeutsche Schwesterorganisation. Neben Werbematerialien im Umfang von mehreren Millionen Flugblättern, über 250.000 Plakaten und Aufklebern unterstützten zahlreiche prominente CSU Politiker den Wahlkampf der DSU. Trotz der umfangreichen Hilfen aus Bayern blieb das Ergebnis der DSU bei den Volkskammerwahlen am 18.3.1990 mit 6,3 Prozent deutlich hinter den Erwartungen zurück. Zwar beteiligte sich die DSU an der Regierung de Maizière, in der sie mit ihrem Generalsekretär Diestel den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Innenminister und Parteivorsitzenden Ebeling den Entwicklungsminister stellte, doch verließen beide im Laufe des Sommers 1990 die DSU und wechselten zur Ost-CDU.

Von der Volkskammerwahl bis zum Ende der Zusammenarbeit 1993

In der Folge setzte ein Abwärtstrend ein, dem die DSU kaum etwas entgegensetzen konnte: Bei den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 halbierte sie ihr Ergebnis auf nur mehr 3,4 Prozent der Stimmen, lediglich in Sachsen und Thüringen erzielte sie noch kleinere Erfolge. Hinzu kamen parteiinterne Streitigkeiten, welche selbst von der CSU und Waigel nicht geschlichtet werden konnten. Trotzdem hielt die CSU im Einigungsprozess am schwächelnden Partner fest. Aber alle Bemühungen, das politische Überleben der DSU über die Wiedervereinigung hinaus zu sichern, blieben erfolglos. Verhandlungen Waigels mit der CDU, der ostdeutschen Schwesterpartei wenigstens drei sichere Direktmandate bei den anstehenden Wahlen zu überlassen, scheiterten. Weder bei den Landtagswahlen in den neuen Ländern im Oktober 1990 noch bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl gelang der DSU der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. Mit einem Abschneiden von 1,3 Prozent im ostdeutschen Wahlgebiet fiel sie praktisch in die politische Bedeutungslosigkeit.

Auch wenn spätestens mit diesem niederschmetternden Ergebnis das Scheitern des ostdeutschen Experiments DSU offensichtlich geworden war, hielt die CSU daran fest. Die personelle Unterstützung wurde reduziert, ebenso wie das Kontaktbüro im Münchner Franz-Josef-Strauß- Haus. Als jedoch im Zuge der Wahl von Roberto Rink zum Bundesvorsitzenden der DSU diese ihre Ausdehnung auf das gesamte Bundesgebiet beschloss, zog man seitens der CSU die Reißlinie: Mit Beschluss vom 24. April 1993 beendete die CSU die Kooperation mit der DSU, womit das Kapitel des ostdeutschen Engagements der Christ-Sozialen ein Ende fand.

Literatur

Renate Höpfinger (Hrsg.), Die Mauer ist weg! Mauerfall, Wendejahre und demokratischer Neubeginn (Bayerische Lebensbilder 5) München 2019, darin: Peter Müller, Die DSU – ein bayerisch-ostdeutsches Parteienprojekt, S. 104-134; Jens Weinhold-Fumoleau, Der Einheit wegen. Parteienkooperationen am Ende der DDR am Beispiel CSU-DSU, S. 135-164.

Andreas Kießling, Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004.

Roman Leuthner, Die politischen und wirtschaftlichen Initiativen des Freistaats Bayern im Zuge des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses der neuen Bundesländer Sachsen und Thüringen im Zeitraum 1990 bis 1993, masch. Diss. Universität München 1995.

Stephan Oetzinger, Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Diss. Universität Regensburg 2016.