Das weiß-blaue Wirtschaftswunder – Strukturpolitik und Selbstdar­stellung nach 1945

Thomas Schlemmer

Der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel, der das sogenannte Wirtschaftswunder in Bayern begleitete, setzte nach der Währungsreform vom Juni 1948 im Freistaat mit Verzögerung ein und begann erst in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, seine volle Dynamik zu entfalten. 1950 hatten noch knapp 31 Prozent aller Erwerbspersonen ihr Auskommen in der Land- und Forstwirtschaft gefunden, 1961 waren es rund 22 Prozent, 1974, als der große Boom zu Ende ging, nur noch gut 12 Prozent. Dagegen wuchs der Anteil der Erwerbspersonen in Industrie und Handwerk von circa 36 Prozent 1950 auf 44,5 Prozent 1961 und 47,4 Prozent 1970; im Zuge der mit dem Ölpreisschock von 1973 verbundenen Wirtschaftskrise sank diese Quote dann bis 1974 auf etwas mehr als 46 Prozent. Auch der Sektor Handel, Verkehr und Dienstleistungen hatte beachtliche Zuwachsraten zu verzeichnen. Der Anteil der Erwerbspersonen, die hier beschäftigt waren, hatte 1950 nur rund 29 Prozent betragen; 1961 errechneten die Statistiker für diesen Sektor bereits einen Anteil von 33,5 Prozent und 1974 von 41,5 Prozent. Dabei folgten freilich nicht zwei Prozesse nachholender Entwicklung aufeinander, vielmehr avancierte Bayern gleichzeitig von einem Agrarland zu einer Industrie- und Dienstleistungsregion.

Vom Agrar- zum Industrie- und Dienstleistungsland

Zu den Besonderheiten des Strukturwandels in Bayern gehörte die Schwäche von Branchen wie Kohle, Eisen und Stahl, die sich zunächst als schweres Handicap, dann aber als Chance erwies, weil branchenspezifischen Krisen, die schon Ende der 1950er-Jahre einsetzten, Bayern weniger hart trafen als andere Teile der Bundesrepublik. Getragen wurde das „Wirtschaftswunder“ in Bayern dagegen von der Elektroindustrie, dem Flugzeug-, Fahrzeug- und Maschinenbau oder der Petrochemie, wobei sich ein produktives Nebeneinander groß-, mittel- und kleinbetrieblicher Strukturen herausbildete. Ein bayerischer Sonderweg war dies freilich nicht, vielmehr die regionale Ausprägung von ökonomischen Entwicklungsprozessen, wie sie sich auch anderswo in Europa beobachten lassen.

Verglichen mit den Krisen und Erschütterungen, die die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgelöst hatte, verlief der Strukturwandel nach 1945 trotz seiner weitreichenden Konsequenzen ohne gravierende gesellschaftliche Konflikte. Seine sozialen Kosten blieben nicht zuletzt deshalb relativ gering, weil er sich vor dem Hintergrund eines außergewöhnlichen ökonomischen Booms vollzog, der breiten Bevölkerungsschichten in relativ kurzer Zeit ungeahnte Lebenschancen eröffnete. Zugleich schuf das „Wirtschaftswunder“ politische Handlungs- und Verteilungsspielräume, die seit den 1950er-Jahren unter anderem dazu genutzt wurden, um das Netz sozialer Sicherung immer enger zu knüpfen, um ökonomische Härten abzufedern oder um regionale Disparitäten zu verringern. Die verspätete Industrialisierung Bayerns zog damit weder die Bildung eines Industrieproletariats nach sich noch entwurzelte sie besonders betroffene Bevölkerungsschichten in Stadt und Land.

Gleichwohl hatte der Strukturwandel tiefgreifende Folgen. Am stärksten traf er die Landwirtschaft. Hatten die Statistiker 1949 in Bayern rund 392.000 land- und forstwirtschaftliche Betriebe mit einer Nutzfläche von mehr als zwei Hektar gezählt, so waren es 1960 353.600, 1971 291.600 und 1975 nur noch 269.300. Bereits in den 1950er-Jahren war die Zahl der Bauernhöfe im Freistaat um fast zehn Prozent zurückgegangen. Zwischen 1960 und 1971 erreichte der Strukturwandel aber eine ungeahnte Dynamik, als die Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe um 17,5 Prozent schrumpfte. In den folgenden Jahren schwächte sich das Tempo dieses Prozesses nur leicht ab; bis 1975 wurden noch einmal fast acht Prozent der bayerischen Bauernhöfe aufgegeben. Dabei konnten die bayerischen Bauern noch nicht einmal das Argument ins Feld führen, sie hätte es besonders hart getroffen. Im Bundesdurchschnitt ging die Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe nämlich wesentlich schneller zurück.

Strukturwandel, Politik und Planung

Was Fortschrittsparadigma und Entwicklungsziele angeht, denen die bis auf das Intermezzo der Viererkoalition zwischen 1954 und 1957 stets CSU-geführte bayerische Staatsregierung folgte, so bildete sich schon in den 1950er-Jahren ein Grundmuster an Zielvorstellungen und gesellschaftlichen Leitbildern heraus, die zwischen Konservativismus und Moderne oszillierten. Dazu gehörte nicht zuletzt die Überzeugung, ein ungebremstes Wachstum der Ballungsräume müsse vermieden werden; stattdessen sei die Industrialisierung des ländlichen Raums nach dem Konzept der dezentralen Verdichtung zu forcieren. Geeignete Klein- und Mittelstädte sollten mit dem Ziel gefördert werden, ein Netz von „Kristallisationskernen, die von regem wirtschaftlichem Leben durchpulst sind“, zu schaffen, wie es 1952 in einer Ausarbeitung der bayerischen Landesplaner hieß. Man wollte so schließlich zu „einer engen Verflechtung“ und zu einem „gesunden“ Verhältnis zwischen Stadt und Land kommen. Mit der Absage an eine Politik zugunsten der Ballungsräume ging die Überlegung einher, dem gewerblich-industriellen Mittelstand besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die kleinräumigen Strukturen, wie man sie in weiten Teilen Bayerns vorfand, zu erhalten und auszugestalten. Zu den wichtigsten Protagonisten dieser Politik zählte Hanns Seidel. Sein wichtigstes Anliegen war sowohl als Wirtschaftsminister zwischen 1947 und 1954 als auch als bayerischer Ministerpräsident zwischen 1957 und 1960 die politische Steuerung der Veränderungsprozesse, die Bayern Zug um Zug vom Agrar- zu einem Industrie- und Dienstleistungsland werden ließen. Durch eine engagierte Industrie-, Struktur- und Infrastrukturpolitik sollten Standortnachteile für die bayerische Wirtschaft kompensiert, die Lebensbedingungen der Bevölkerung vor allem im ländlichen Raum verbessert und der steuerschwache Freistaat – wie Seidel in einer Regierungserklärung betonte – finanziell auf die eigenen Füße gestellt werden. Damit hatte die bayerische Wirtschafts- und Strukturpolitik auch eine deutliche föderalistische Komponente.

Fortschritt und Zukunft

Die Fortschrittsnarrative und Zukunftsvorstellungen, die hinter dieser Politik standen, hatten sich schon in den 1950er-Jahren herausgebildet. Sie transportierten Überzeugungen, wie man sie zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ in allen Teilen der Bundesrepublik finden konnte, die aber in West- und Norddeutschland mit der Strukturkrise im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts brüchig geworden waren. Zu diesen Überzeugungen gehört der Glaube an die Politik oder besser: der Glaube an die Möglichkeit, den sozialen und ökonomischen Strukturwandel durch staatliche Interventionen steuern und in die richtige Richtung lenken zu können. Ein herausragendes Beispiel ist die von Edmund Stoiber nach seiner Wahl zum bayerischen Ministerpräsidenten im Jahr 1993 initiierte und lautstark verkündete „Zukunftsoffensive“ für den Freistaat, die über den Verkauf von Staatsbeteiligungen finanziert wurde. Nicht nur Journalisten wie Nina Grunenberg in der „Zeit“ rieben sich verwundert die Augen: „Alle rätseln über die Zukunft. Nicht die Bayern. Kaum jemand vertraut noch in die Zukunft. Kein Problem in Bayern. Auf Zukunft gäbe es kein Copyright […]. Die Bayern widersprechen. Sie sind sicher, daß sie die Zukunft längst gepachtet haben. Mögen andere den Diskurs über die ‚reflexive Moderne‘ pflegen: In der bayerischen Staatskanzlei wird gehandelt – zuversichtlich, überzeugt, motiviert und erschreckend zielbewußt für alle, die noch Zweifel haben.“

Diese Interpretation war Wasser auf die Mühlen derer, die hinter der „Zukunftsoffensive“ standen. Nicht nur, dass Bayern, die Staatsregierung und die CSU – ohne sie auch nur zu nennen – in eins gesetzt und damit Vorstellungen vom schwarzen Monolithen im Süden der Bundesrepublik befestigt wurden, auch der Erfolg schien gleichsam vorprogrammiert zu sein. Dieses auf die 1950er-Jahre zurückgehende Muster der aktiv gestaltenden, von der CSU getragenen, erfolgreichen Modernisierungspolitik hat sich soweit verfestigt, dass sich selbst Experten mitunter schwertun, kurzschlüssige Deutungen abzuwehren und auf die Interdependenz von günstigen Rahmenbedingungen, richtungweisenden politischen Entscheidungen und glücklichen Zufällen hinzuweisen, ohne die sich die Entwicklung in Bayern nicht erklären lässt. Es scheint fast so, als habe sich diese Fama im Sinne einer self-fulfilling prophecy mittlerweile zu einem Standortfaktor eigener Art gemausert, der insbesondere in engen Entscheidungssituationen von ausschlaggebender Bedeutung sein kann.

Literatur

Stephan Deutinger, Vom Agrarland zum High-Tech-Staat. Zur Geschichte des Forschungsstandorts Bayern 1945-1980, München/Wien 2001.

Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010.

Stefan Grüner, Geplantes „Wirtschaftswunder“? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973, München 2009.

Thomas Schlemmer, Erfolgsmodelle? Politik und Selbstdarstellung in Bayern und Baden-Württemberg zwischen „Wirtschaftswunder“ und Strukturbruch „nach dem Boom“, in: Stefan Grüner/Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945-2000, Berlin/Boston 2017, S. 171-190.

Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001.

Thomas Schlemmer/Stefan Grüner/Jaromír Balcar, „Entwicklungshilfe im eigenen Lande“. Landesplanung in Bayern nach 1945, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2003, S. 379-450.