Die Position der CSU im Spannungsfeld zwischen Atlantikern und Gaullisten

Reinhard Meier-Walser

Die außenpolitische Kultur der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch einige grundlegende und streitbare Debatten wie die Kontroversen um die Westintegration, die „Hallstein-Doktrin“, die „neue deutsche Ostpolitik“, die Wiedervereinigung, den Kosovo- (1999) und den Irakkrieg (2003). Während die Fronten der zum Teil sehr emotional geführten Debatten in den meisten der sich dahinter verbergenden Konfliktfeldern „weitgehend entlang traditioneller Parteilinien verliefen“, spaltete der tiefgreifende Dissens zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“, der die außenpolitische Diskussion der Republik ab dem Ende der 1950er-Jahre nahezu ein ganzes Jahrzehnt lang prägte, „vor allem die unionsgeführten Bundesregierungen und die CDU/CSU“ (Geiger). Dass die CSU mehrheitlich dem Lager der „Gaullisten“ zuneigte, bedeutete, wie noch zu zeigen sein wird, keine Priorisierung Frankreichs gegenüber den USA – ganz im Gegenteil besaß der (nukleare) Schutzschirm der USA für die CSU eine hohe politische Priorität. Weil Strauß, zu Guttenberg und andere christsoziale Außenpolitiker allerdings befürchteten, dass Deutschland im Rahmen einer einseitigen (transatlantischen) Sicherheitspartnerschaft im Falle eines Rückzuges Washingtons der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt weitgehend schutzlos ausgeliefert wäre, versuchten sie im Diskurs mit den „Atlantikern“ mittels einer Intensivierung der deutsch-französischen Partnerschaft sicherheitspolitisch gegenzusteuern.

 

Die CSU als „feste Stütze“ der Außenpolitik Konrad Adenauers

Zum Verständnis der Hintergründe der Kontroverse zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ muss an die Suez-Krise von 1956 erinnert werden, die zu einem schweren Konflikt zunächst zwischen Washington und Paris und später auch zwischen London und Paris geführt hatte. Im Zuge der weiter wachsenden Spannungen zwischen den angelsächsischen Mächten und Frankreich in der Folge dieser Krise geriet der außenpolitische Kurs Bundeskanzler Konrad Adenauers, der von der CSU vollinhaltlich mitgetragen wurde, ins Schwanken. Das Dilemma bestand darin, dass im Gegensatz zum ersten Nachkriegsjahrzehnt, als die gegenseitige Ergänzung von Bonns atlantischer und europäischer Politik den Eckpfeiler der Außenpolitik von CDU und CSU gebildet hatte, sich nun die Sicherheits- und die Europapolitik der Bundesrepublik nicht mehr in Einklang bringen ließen. Das bedeutete, dass Bonn vor dem Problem stand, zwischen Washington, dem existenziell wichtigen Partner in der Sicherheitspolitik, und Paris, dem bedeutendsten Partner in Europa, wählen zu müssen. Diese nahezu unlösbare Aufgabe führte wiederum dazu, dass latent schwelende außenpolitische Zielkonflikte innerhalb der Regierungskoalition und in der CDU offen zutage traten und dass sogar der Rückhalt des Bundeskanzlers in seiner eigenen Partei schwächer wurde (Hanrieder). In dieser prekären Situation einer zunehmenden Polarisierung unterschiedlicher außen- und sicherheitspolitischer Positionen sah sich die CSU herausgefordert, als, wie sie in einer Denkschrift mit dem Titel „Deutschland in der Welt. Außenpolitik und Deutschlands Sicherheit“ bekannte, „feste Stütze der Politik Konrad Adenauers“ ihre Leitlinien und Positionen im außenpolitischen Diskurs zu verankern.

Kein „Verstecken hinter dem Schutzmantel der USA“

Hinter der insbesondere im Laufe der Regierung Erhard mit zunehmender Schärfe geführten Diskussion zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ verbarg sich ein grundlegender Dissens hinsichtlich der Optionen der Bundesrepublik Deutschland, ihre und die Sicherheit Europas zu gewährleisten. Die Wortführer der „Atlantiker“ der Union, Bundeskanzler Erhard, Außenminister Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, argumentierten, dass das Verantwortungsbewusstsein Washingtons gegenüber den Europäern geringer werde, falls diese ihrer transatlantischen Schutzmacht gegenüber sicherheitspolitisch selbstbewusster gegenübertreten und ihre eigenen militärischen Verteidigungskapazitäten ausbauen würden.

Demgegenüber forderten die Verfechter einer der Linie Adenauers folgenden, die europäisch-französische Dimension stärker berücksichtigenden Variante, unter ihnen die CSU mit Franz Josef Strauß, Karl Theodor zu Guttenberg und anderen führenden außenpolitischen Köpfen, aber auch einigen prominenten CDU-Vertretern wie Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, gezielte Anstrengungen Europas zur Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit. Strauß geißelte es in seinen Erinnerungen später als „ein Zeichen europäischer, insbesondere aber deutscher Dekadenz“, dass man „auf unserer Seite immer der Neigung nachgegangen ist“, sich „hinter dem militärischen Schutzmantel der Amerikaner zu verstecken“. In einer derartigen Haltung sah er einen „eklatanten Widerspruch zur geschichtlichen Verantwortung Europas“, das aufgrund seiner Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl auch mehr für seine Sicherheit tun müsse. Obwohl Strauß wie auch die anderen Außenpolitiker der CSU die Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Verteidigung Europas im Rahmen des Atlantischen Bündnisses niemals öffentlich in Zweifel zog, setzte er sich für die von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer angestrebte deutsch-französische Union ein. Dies führte, so räumte er später ein, zu „anhaltenden Spannungen und Auseinandersetzungen“ mit CDU-Außenamtschef Gerhard Schröder, der einer möglichen Achse Bonn-Paris misstrauisch gegenüberstand.

Relativierung der amerikanischen Sicherheitsverpflichtung gegenüber Europa?

Hinter der Skepsis der CSU gegenüber einer exklusiven Sicherheitspartnerschaft mit den USA verbarg sich die Überlegung, dass eine Fixierung Bonns auf Washington sukzessive zu einer Isolierung Frankreichs führen würde. Dies widerspreche nicht nur den Leitlinien der eigenen Europapolitik, sondern verschärfe die Spannungen in der westlichen Allianz und könne letzten Endes sogar in einer Isolierung Deutschlands münden. Daneben war den außenpolitischen Strategen in der CSU nicht verborgen geblieben, dass im Zuge der allmählichen Erosion der globalen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten, der Amtsübernahme John F. Kennedys und der Verlagerung des Hauptaugenmerks US-amerikanischer Außenpolitik nach Asien eine Relativierung der Sicherheitsverpflichtungen der USA gegenüber Europa nicht mehr ausgeschlossen werden konnte. In seinem „Plädoyer für eine mutige Politik“ zugunsten mehr europäischer Eigenverantwortung bezog sich CSU-Außenexperte Baron zu Guttenberg sogar explizit auf die Ausführungen des jungen US-Präsidenten Kennedy, der in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche im Juni 1963 ein einiges und starkes Europa gefordert hatte.

Aufgrund der in Washington durchaus kontrovers geführten Diskussion um die strategische Doktrin wuchsen im Laufe der Zeit aber auch in der CSU Zweifel sowohl an der konsequenten Aufrechterhaltung der amerikanischen Abschreckung einer sowjetischen Bedrohung Westeuropas als auch an der Entschlossenheit der USA, im Falle eines Scheiterns der Abschreckung ihre westeuropäischen Verbündeten mit den auf dem Kontinent stationierten taktischen Nuklearwaffen zu verteidigen. Verstärkt wurden die Bedenken durch die Vorbereitungen eines amerikanisch-sowjetischen Atomwaffen-Sperrvertrages, mit dessen Unterzeichnung in den Reihen der christsozialen Außen- und Sicherheitspolitiker die Zementierung und weitgehende Legalisierung der Trennungslinie von Jalta sowie die Vereitelung der Möglichkeiten zur Schaffung einer europäischen Verteidigungsstreitmacht verknüpft wurde.

Sicherheit auf breiten Schultern

Die CSU würdigte die NATO als eine effektive Verteidigungsallianz, unter deren Schutzschirm Europa Kräfte hatte sammeln können. Sie lehnte jedoch die Fortschreibung der Exklusivität des Nordatlantischen Bündnisses als Verteidigungsallianz Europas spätestens ab dem Zeitpunkt endgültig ab, als sie davon überzeugt war, dass mit dem Ende des US-amerikanischen Nuklearmonopols die sicherheitspolitischen Interessen zwischen Washington und dessen europäischen Partnern nicht mehr vollständig in Einklang zu bringen wären. Die Vereinigten Staaten, so notierte Strauß in seinem „Entwurf für Europa“ im Jahre 1966, konzentrierten sich angesichts der Tatsache, dass sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit der konkreten technischen Möglichkeit der Zerstörung ihres Staatsgebietes konfrontiert seien, nun zunehmend darauf, mit der Sowjetunion eine Übereinkunft auf Basis des Status quo in Europa zu erreichen.

Als Folge dieser insgesamt skeptischen Bewertung der Entwicklung der internationalen und europäischen Sicherheitslage forderte die CSU anstelle einer einseitigen Ausrichtung an den USA eine das Verteidigungskonzept der NATO ergänzende, eigene europäische Rüstungs- und Verteidigungspolitik. Dadurch sollte Europas Sicherheit auf breitere Schultern gestellt, aber gleichzeitig auch der transatlantische Sicherheitspartner unterstützt und angesichts seiner Probleme in Asien (Vietnamkrieg) auf seiner europäischen Flanke entlastet werden. Diese Überlegungen zeigen, dass die Parteistrategen auf die Verbindung eines atlantisch-amerikanischen und eines europäischen Verteidigungskonzeptes bauten und dass der in der Etikettierung „Gaullisten“ implizierte Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika in den Reihen der Christlich-Sozialen Union nicht real existierte.

Literatur

Deutschland in der Welt. Außenpolitik und Deutschlands Sicherheit. Denkschrift, hrsg. vom Arbeitskreis Deutschland- und Außenpolitik der CSU, o.O., o.J. [1965] (ACSP, DS 9/34).

Karl Theodor zu Guttenberg, Wenn der Westen will. Plädoyer für eine mutige Politik, Stuttgart 1965.

Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969, München 2008.

Wolfram Hanrieder, Fragmente der Macht. Die Außenpolitik der Bundesrepublik. München 1981.

Reinhard Meier-Walser, Die Christlich-Soziale Union und die Außenpolitik, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945-1995, Grünwald 1995, S. 367-398.

Franz Josef Strauß, Entwurf für Europa, Stuttgart 1966; ders., Herausforderung und Antwort. Ein Programm für Europa, Stuttgart 1968; ders., Die Erinnerungen, Neuausgabe München 2015.