Europa als Friedensidee – Josef Müller

Reinhard Meier-Walser

Als „bedeutendste politische Idee“ und „größter Stabilitätsbeitrag des 20. Jahrhunderts“ habe die europäische Einigung, so heißt es im aktuellen, im November 2016 auf dem Parteitag in München verabschiedeten Grundsatzprogramm der CSU, die „größte Friedens-, Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft“ geschaffen, die es „jemals in Europa gegeben hat“. Dass die Partei nicht erst in jüngerer Zeit „uneingeschränkt zur europäischen Idee“ steht, sondern dass sie den europäischen Einigungsprozess von Beginn an aktiv förderte und konstruktiv mittrug, belegt ein Rückblick in die Gründungsphase der CSU nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wahrung christlich-abendländischer Kultur

Bereits in ihrem ersten, auf der Landesversammlung im Dezember 1946 in Eichstätt verabschiedeten Grundsatzprogramm dokumentierte die „Christlich-Soziale Union in Bayern“ ihre europapolitische Verantwortung und bekannte sich sowohl zur „Befriedung Europas als Beitrag zum dauerhaften Frieden der Welt“ als auch zur Vertiefung der Zusammenarbeit auf dem Kontinent. Im Rahmen der Völkerfamilie sei Europa eine „übernationale Lebensgemeinschaft“, die die CSU zu einer „europäischen Konföderation zur gemeinsamen Wahrung und Weiterführung der christlich-abendländischen Kultur“ weiterentwickeln wolle. Da kein Land Europas „für sich allein bestehen“ könne, trete die CSU für die „Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion“ ein und fordere „den Abbau der Zollschranken zwischen den einzelnen Staaten Europas.“

Dieses Bekenntnis zu Europa spiegelte neben der generellen Position einer dem Frieden unter den Völkern und der Gleichberechtigung aller Nationen verpflichteten Partei ganz maßgeblich die politischen Ziele ihres ersten Landesvorsitzenden Dr. Josef Müller wider, für den aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung einer demokratischen europäischen Friedensordnung hohe Priorität genoss.

Der „Ochsensepp“: Widerstand, Verhaftung, Folter

Josef Müller (1898-1979), der „Ochsensepp“ genannt wurde, weil er als Schulbub im oberfränkischen Steinwiesen sein karges Taschengeld als Fuhrknecht aufgebessert hatte, gehörte während des Zweiten Weltkrieges als enger Mitarbeiter von Admiral Wilhelm Canaris zum Widerstand gegen das Nazi-Regime und war auch „in die Pläne zum Sturz Hitlers eingeweiht“ (Theo Waigel). Im April 1943 wurde er erstmals verhaftet, im September 1944 dann im berüchtigten Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße verhört und gefoltert und ab Februar 1945 in den Konzentrationslagern Buchenwald, Flossenbürg und Dachau eingesperrt. Nach monatelangen physischen und psychischen Qualen wurde Müller schließlich Ende April 1945 zusammen mit anderen prominenten Dachauer Häftlingen zunächst nach Innsbruck und von dort über den Brenner ins Südtiroler Pustertal gebracht. Am Pragser Wildsee wurde die Gruppe der Gefangenen schließlich am 4. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit.

Lehren aus der Geschichte

Müller hatte die Grausamkeiten militärischer Schlachten bereits während des Ersten Weltkrieges kennengelernt, nachdem er als 18-jähriger Gymnasiast im November 1916 zum Heer einberufen worden war und vom Februar 1917 bis zum Kriegsende an der Westfront dienen musste. Seine erneute Konfrontation mit den Schrecken des Krieges während des Dritten Reiches und seine Begegnungen mit ebenfalls inhaftierten Persönlichkeiten auch anderer europäischer Staaten (wie dem sozialistischen französischen Ex-Premier Leon Blum oder dem letzten österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg) in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten führten ihn und andere Häftlinge zu der Erkenntnis, dass nur durch ein geeintes Europa eine stabile und dauerhafte Friedensordnung auf dem Kontinent geschaffen werden könne.

Im Dialog mit dem zur Widerstandsbewegung gehörenden protestantischen Generaloberst Ludwig Beck entwickelte der tiefgläubige katholische Christ Müller die Idee, über die Kameradschaft unter den einzelnen Widerstandsgruppen zu einer Freundschaft der Völker Europas gelangen und damit die zerstörerische, in Krieg und Vernichtung mündende Kraft des Nationalismus bannen zu können. Mittels des sowohl politische als auch religiöse Unterschiede und Gegensätze überwindenden „Geistes der Lagerstraße“ wurde die Kameradschaft des Widerstandes schließlich als „politisches Konzept zu einer echten Solidargemeinschaft gehärtet“ (Hans Karl Scherzer).

Müller hatte im Auftrag von Admiral Canaris bereits frühzeitig wertvolle Kontakte zu den Führungsstäben außerdeutscher Widerstandsbewegungen vor allem in Böhmen, in der Slowakei und in Ungarn geknüpft, während ihm bei der Kontaktaufnahme im Westen mitinhaftierte KZ-Insassen wie der Sozialist Leon Blum behilflich waren. Aus dessen Gesprächen mit dem französischen Premier Robert Schuman zur Gründung eines Zentrums der Zusammenarbeit auf Basis christlicher Demokratie entstanden 1947 die „Nouvelles Équipes Internationales“ (NEI) als Zusammenschluss christlich-demokratischer Parteien in Europa. In seinen Memoiren erinnerte sich Josef Müller, dass „bereits zum zweiten Kongreß der NEI, der im Februar 1948 in Luxemburg stattfand“, auch „Deutsche eingeladen“ waren – „Dr. Adenauer und ich“. Für Müller bedeutete der Kongress nicht nur einen großen Erfolg, weil CDU und CSU in die NEI aufgenommen wurden, sondern insbesondere auch, weil er persönlich von mehreren hochrangigen Teilnehmern als ein Politiker gewürdigt wurde, der schon für den europäischen Frieden eingetreten sei, als „andere noch nicht daran gedacht haben“ (Josef Müller).

Rückblickend betrachtet war der Zusammenschluss christlich-demokratischer Parteien ein wichtiger Meilenstein für die Integration Europas. Müller war sich sogar „ganz sicher“, dass die NEI Robert Schuman zu seinem im Mai 1950 vorgestellten Europaplan anregten, der wiederum zur Gründung der „Montanunion“ als erster institutioneller Verankerung des Integrationsprozesses führte.

Europas Einheit als Herzensangelegenheit

Sein engagiertes Wirken für die europäische Einigung setzte Josef Müller, „so wie es von Generaloberst Beck und meinen Freunden im Widerstand geplant und vorbereitet war“, später im Rahmen der Europa-Union fort, deren Präsidium er viele Jahre angehörte.

Dass Europa für den ersten Vorsitzenden der CSU „nicht nur politisches Ziel, sondern eine Herzensangelegenheit“ (Scherzer) war; dass die Zusammenführung der Nationalstaaten des Kontinentes für ihn nicht nur einen funktionalen, sondern insbesondere auch einen friedenspolitischen Auftrag umfasste; und dass sein früh entwickeltes Konzept einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nicht nur eine ökonomische, sondern ganz maßgeblich auch eine normative Dimension besaßen, zeigt sich sehr deutlich an dem Leitsatz, den Josef Müller im Juli 1955 seiner anlässlich der St.-Ulrichs-Festwoche und der Tage abendländischen Bekenntnisses in Augsburg gehaltenen Festrede voranstellte: „Die Zukunft Europas liegt im Vorsprung der Ethik vor der Technik.“ (Josef Müller).

Literatur

Das Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union in Bayern, verabschiedet auf der Landesversammlung der CSU am 14./15. Dezember in Eichstätt; Die Ordnung. Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union. Beschluss des CSU-Parteitages am 5. November 2016 in München.

Zum 100. Geburtstag: Josef Müller – Der erste Vorsitzende der CSU. „Politik für eine neue Zeit“. Hanns-Seidel-Stiftung, München 1998, darin: Theo Waigel, „Nur wer selbst Mut hat, kann anderen Mut machen“ – Das politische Werk Josef Müllers, S. 17-26; Hans Karl Scherzer, Josef Müller – Politik für eine neue Zeit. Eine Würdigung, S. 27-94.

Friedrich Hermann Hettler, Josef Müller (“Ochsensepp“). Mann des Widerstandes und erster CSU-Vorsitzender, München 1991.

Josef Müller, Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit, München 1975, S. 360-362.