Kultur: Die CSU pflegt den Boden, auf dem sie steht

Michael Weiser

Unser Ausflug in die jüngere bayerische Kultur-Geschichte beginnt, das passt für Kultur ja eigentlich auch ganz gut, mit einem Moment der Verblüffung. Also, Michael Lerchenberg saß im Cuvilliés, bei der Verleihung der Kulturförderpreise. „Und ich dachte, ich falle gleich vom Klappsessel.“ Da stand ein CSU-Ministerpräsident Markus Söder und forderte öffentlich die Bewahrung der Freiheit von Kunst, Kultur und Wissenschaft ein. "Das ist nicht nur ein Lippenbekenntnis“, sagt Michael Lerchenberg. „Wenn ich einen Hut aufgehabt hätte, ich hätte ihn gezogen."

Daran ist mehrerlei überraschend, auf den ersten Blick zumindest. Erstens, dass ein Schauspieler und Kabarettist einem Mächtigem im Lande offen und ganz ironiefrei Respekt zollt. Und zweitens: Dass es ausgerechnet der Staat ist, in Gestalt des Regierungschefs, der den Künstlern und Wissenschaften so etwas Spezielles und Schwieriges wie Freiheit garantiert. Ja, es war auch wirklich jener Ministerpräsident Söder, der bei einer anderen Veranstaltung, einem „Kulturbrunch“ der CSU, sagte: „Kultur provoziert, fordert heraus, führt zu Diskussionen und unterhält. Kultur muss reiben und fordern.“

Der Staat äußert sich, wenn er selbst souverän und die Kultur einigermaßen sicher vor zensurwilligen Fressfeinden ist, zu Themen der Kunst kaum. Da ist es bemerkenswert, wenn sich die Obrigkeit so äußert. Es ist auch ein Warnsignal. „Wir haben aktuell eine Gesinnungs- und Tugendwächterei, die in Theatern, in der Kunst, in den Unis die Freiheiten nimmt, die man sich in der 68-er Kulturrevolution erkämpft hatte“, sagt Lerchenberg. Da fallen einem natürlich erstmal die zutiefst kultur- und freiheitsfeindlichen Attacken der AfD gegen Medien und Exponenten der Kultur ein. Da fallen einem autoritäre Staatsführer wie Victor Orban ein, der mit seinem neuen Kulturrat dem „liberalen Zeitgeist“ - lies: der Freiheit der Kunst - den Kampf angesagt hat. Denkverbote oder vielmehr Denkgebote sind aber auch dem linken Spektrum nicht unbekannt. Es scheint tatsächlich die Mitte zu sein, die am konsequentesten für die Freiheit der Kunst einsteht. Mitunter schockiert oder gar verärgert, aber eigentlich doch eher von tiefer Zuneigung dem gegenüber erfüllt, was sie als Kultur ansieht.

Es ist ein Verhältnis, das weder obrigkeitlich-höfisch noch randständig-avantgardistisch geprägt ist. In guten Teilen wurzelt es noch im bürgerlichen Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg. Das zu Einfluss und Wohlstand gelangte Bürgertum nutzte Kultur als Unterscheidungsmerkmal, schätzte aber auch das Schöne und „Charakterbildende“, war insgesamt am Bewährten offensichtlicher interessiert als am Neuen, aber nicht immer. Man erinnere sich an den „Blauen Reiter“ und seine berühmte Murnauer Sommerfrische.

Kultur gehört zum Markenkern

Vor geraumer Zeit aber, ungefähr so lange, wie es die CSU gibt, ist etwas Neues hinzugekommen: Kultur als identifikationsstiftender Faktor, als dringliche Angelegenheit der Selbstvergewisserung. Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat, so heißt es im berühmten Artikel 3 der bayerischen Verfassung, in entschiedener Abgrenzung zur Barbarei der Nazis, aber auch als Versprechen für die Zukunft. Kultur, so sagt es Thomas Goppel, der in seiner Zeit als Kulturminister viele Weichen stellte, kommt von „colere“, lateinisch für „pflegen“. Die CSU sei „eine Partei auf dem Boden der Gegenwart. Und sie ist die einzige politische Kraft, die den Menschen zum Maß erhebt“. Und, das darf man hinzufügen, eine eigenständige Kultur als entscheidendes Instrument im Ringen um den föderalen Aufbau Deutschlands sieht.

Und wenn es auch nicht „die CSU“ war, die eine Autorenschaft für den kurzen, knappen und schönen Satz in der Verfassung beanspruchen darf, so war und ist es doch in erster Linie die Dauerregierungspartei, die den Anspruch erfüllt und erfüllen lässt. Über eine halbe Milliarde Euro gibt der Freistaat jährlich für Kultur aus. Die Aufmerksamkeit des Bayerischen Wissenschafts- und Kunstministers gelten den weltweit beachteten staatlichen Sammlungen ebenso wie Orchestern und Theatern oder der Laienmusik. Bayern hat nicht nur Schlösser, sondern mit rund 1.350 Museen eine der reichsten Museumslandschaften Europas. Der Freistaat sieht Kulturausgaben auch als Investition in einen „Markenkern“, der ideell wie auch wirtschaftlich Früchte trägt. In den Bilanzen zur Kultur fehlt selten der Verweis auf die etwa 20 Millionen Museumsbesucher – viele aus dem Ausland – und auf die vielen, vielen Touristen, die nicht nur wegen der Berge und Seen, sondern auch wegen der Kultur den Freistaat bereisen. Die CSU ist nicht der Erfinder des Ganzen, sie bringt nicht das Geld auf (das tut immer noch der Steuerzahler), aber sie sieht den Staat in einer Bringschuld. Sie hatte darin ja auch ein historisches Vorbild. Max. I. Joseph verdankte seinen Königstitel Napoleon, der Bayern unter anderem auch noch um die Gebiete des Fürstbistums Bamberg und der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth vergrößerte. Bayern war seinerzeit ein Flickenteppich, der auch durch kulturelle Anstrengungen zusammengehalten wurde. Die Förderung von Trachtenvereinen geht auf diese Zeit zurück. Und nach Krieg, Niederlage und der Ankunft von Millionen Sudetendeutschen und Schlesiern lange nach der Abdankung der Wittelsbacher war es wieder die Kultur, die zusammenwachsen lassen sollte, was so nicht für jeden ersichtlich zusammengehören musste.

Weil wir vorhin von Franken sprachen: Dass Franken nicht die aggressiven Unabhängigkeitstendenzen entfalten wie anderswo in Europa, liegt auch an der kulturellen Pflege der reichen, vielfältigen Kulturlandschaften im Norden des Freistaats. Bayern steht zu den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth, der Freistaat fördert das Theater in Hof und das Orchester dort, aber auch die Symphoniker in Bamberg, die als reiselustigstes Orchester ein deutscher Kulturbotschafter par excellence sind. Dass Schweinfurt mit dem Museum Georg Schäfer eine geradezu sensationelle Einrichtung besitzt, liegt auch an den hervorragenden Verbindungen der damaligen CSU-Oberbürgermeisterin Gudrun Grieser zur Staatsregierung. Derzeit stehen Projekte wie die neuen Konzertsäle in München und in Nürnberg im Fokus. Aber Bayern fördert eben nicht nur seine Metropolen, sondern investiert flächendeckend. Auch dazu hat Michael Lerchenberg, lange Jahre höchst erfolgreicher Intendant in Wunsiedel, Erhellendes beizutragen: „Man hat den Luisenburg-Festspielen gut und gerne gegeben, schon weil man überzeugt war, dass wir gute Arbeit machen. Und man wusste auch um unser hohes Risiko, war immer bereit einzuspringen, wenn es brannte.“

Ganz spannungsfrei war das Verhältnis nie

Landesregierung und Kultur: In diesem Verhältnis herrschte immer auch ein Reizklima. Seitens der Politik war lange Zeit eine gewisse Neigung zu registrieren, politisch denkende Künstler an die Kandare zu nehmen. Die CSU sei eine „absolut“ kulturfreundliche Partei, sagt Michael Lerchenberg. „Sie ist es, aber sie ist es auch geworden. In der Zeit von Franz Josef Strauß war das noch anders, da ist dann schon mal ein Staatsintendant über die Klinge gesprungen, weil er von Achternbusch ,Gust' aufgeführt hat“, weiß er zu berichten. „Und es gab auch nachdrückliche Ratschläge aus der Staatskanzlei, Hans Brenner und Ruth Drexel nicht mehr zu besetzen, weil das verkappte Kommunisten seien."

Das habe sich dann aber radikal verändert, „schon unter Stoiber“. Wie am Beispiel Ruth Drexel ersichtlich. Sie wurde, mit Bayerischem Verdienstorden und Maximiliansorden dekoriert, eine der höchst ausgezeichneten Künstlerinnen. „Nirgendwo wird so viel diskutiert wie bei uns“, sagt Thomas Goppel und zieht als Beispiel das Drama „Der Stellvertreter“, von Rolf Hochhuth heran: „Bei uns gab es gehörigen Widerstand. Das Stück ist heute ein Klassiker. Aber der Widerstand hat dazu geführt, dass man das Stück auch mal hinterfragt.“

In jüngster Zeit führte das Engagement von Intendanten wie Matthias Lilienthal (Kammerspiele) und Christian Stückl (Volkstheater) für die Demo „Ausgehetzt“ zu Spannungen. Aber – das sei mangels Platz in vermutlich unzulässiger Verknappung bilanziert – nicht zu einer nachhaltigen Spaltung. Wie Goppel vorhin sagte: Diskutiert wird viel in Bayern, man kann hinzufügen: manchmal heftig, geradezu giftig. Aber das Raufen gehört offenbar dazu. Streitkultur als elementarer Bestandteil der Leitkultur, wie es bei anderer Gelegenheit Monika Grütters formulierte, die Beauftragte der Bundesregierung für Kunst. Michael Lerchenberg hat nicht zuletzt als Nockherberg-Fastenprediger seine eigenen Erfahrungen damit gesammelt. "Ich habe manches gesagt, was der CSU und der bayerischen Staatsregierung nicht gepasst hat.“ Aber, das sagt er auch: Im Allgemeinen seien die Politiker auch in der Lage, die Dinge auseinanderzuhalten und Spott nicht persönlich zu nehmen und dem Künstler nachzutragen.

Die CSU darf sich sicherlich neugieriger zeigen. Die Staatsregierung fördert am sichtbarsten die Hochkultur und damit das Etablierte, das reiche „Erbe“, wie es auch mal Ludwig Spaenle als Kunstminister in Bamberg sagte. Das geschieht auch in andern Bundesländern. In Bayern fällt auf, wie sorgfältig das Geld in die Fläche des Landes und die Bandbreite der Kultur geht: Von der Oper bis zur Volksmusik, vom Denkmalschutz bis zum digitalen Kulturportal Bavaricon, ganz zu schweigen von den vielen, vielen Theatern, wo der Freistaat nicht zuletzt viel Geld in den Erhalt der Bausub­stanz steckt – etwa in Augsburg und in Coburg.

Letzteres ist überhaupt ein gutes Beispiel dafür, wie Bayern für und mit Kultur Politik macht. Denn Coburg hätte sich nach dem Ersten Weltkrieg ja auch für Thüringen entscheiden können. Dass das schöne fürstliche Theater schon nicht eingehen würde, das wurde den Coburgern damals versprochen. Und bis zum heutigen Tag steht die Regierung in München ohne Wenn und Aber zum Wort von damals und zahlt gemeinsam mit der Stadt Coburg für den Betrieb eines veritablen Drei-Sparten-Hauses. Apropos München: Dort könnte man eine der größten und wichtigsten Gemäldesammlungen der Welt bewundern. Könnte man – wären die Bilder in der Hauptstadt konzentriert und nicht auf ein gutes Dutzend weiterer bayerischer Städte verteilt.

Die CSU setzt sich für vieles an vielen Orten ein. Sie darf aber natürlich immer noch offener für das gerade Entstehende und noch zu Schaffende werden, vor allem aber für die unabhängige Szene, die oft unter dem Radar der offiziellen Kunstwahrnehmung schafft und werkelt. Dass etwa ein angesehenes Ensemble für Neue Musik wie „Piano Possibile“ mangels ausreichender Förderung von der Landkarte verschwindet, ist ein Verlust. Die CSU darf sich auch noch offensiver des Bodens bewusst werden, auf dem sie mittlerweile steht: Bayern hat sich, auch durch den Zuzug von hunderttausenden Migranten, verändert und wandelt sich weiter. Zu den eigentlichen Leistungen der CSU gehörte es immer auch, diese Wandlungen nicht zu erdulden, sondern sie mitzugestalten. „Wir wollen noch spannender und faszinierender werden.“ Auch das sagte Ministerpräsident Markus Söder bei dem erwähnten „Kulturbrunch“. Das ist ein Versprechen. Wird es gehalten, darf man den Hut schon ein Stückerl weit lüften oder gar ziehen. Ohne sich Untertanengeistes bezichtigen lassen zu müssen.

Postscriptum in der fünften Woche des Corona-Lockdowns: Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat sich gestern (20. April 2020), und das nicht etwa nebenbei, zur Lage der Künstler geäußert. Kein entwürdigendes Antichambrieren, kein Hartz-IV-Verfahren für die kreativen Selbstausbeuter. Stattdessen garantiert tausend Euro jeweils für die nächsten drei Monate. Macht schon mal gut 90 Millionen Euro, die gut investiert sind. Markus Söder hat es wiederholt: "Bayern ist ein Kulturstaat." Und: "Wir wollen die Kunstszene und die Künstler nicht allein lassen." Starke und gute Ansage, auch in Hinblick auf die Gemütslage einer ohnehin auf Kante genähten Künstlerexistenz. Es stellt sich eine spannende Frage: Lässt sich die CSU künftig auf eine Diskussion übers bedingungslose Grundeinkommen ein?