Künstliche Intelligenz als sagenumwobener Sammelbegriff erweckt durch seine Uneindeutigkeit Hoffnung und Horror gleichermaßen: Sie stellt den Menschen und seine Intelligenz in den Schatten. Industrie, Handels- und Werbebranche, Medizin, Versicherungen, das Militär – sie alle, und selbst Kühlschrank- und Haarbürstenhersteller, erkennen in der Künstlichen Intelligenz „the next big thing“, wie es Evangelisten der digitalen Revolution bei jeder sich selbst übertreffenden Produkteinführung gerne verkündigen. Immer schneller, mit immer höherer Rechenleistung werden immer bessere Produkte auf den Markt gespült – jetzt noch weicher,
jetzt mit noch verbesserter Wirkformel, jetzt sogar mit KI – der ultimative Superlativ der Werbung. Künstliche Intelligenz also nur ein sensationelles aber inhaltsarmes Marketing-Label? Ja und nein – denn zu oft erledigen simple Algorithmen die Jobs, die sich hochtrabend als KI ausgeben.
Computergestützte Mustererkennung und Mustervorhersage aus massenhaften Daten bewirken als tiefe algorithmische Systeme allerdings tatsächlich auch Phänomenales: Sie können aktuell selbstständig Katzenbilder von Pferdebildern unterscheiden, sie können den Menschen im Go- aber sogar auch im Poker-Spiel schlagen, in dem sie besser bluffen als er, sie können Wetterberichte und Drittliga-Fußballspiele beschreiben. Oder ernsthafter: Sie können Lieferketten optimieren, Krebs diagnostizieren und früherkennen helfen, sie können komplexe Produkte herstellen, bei denen ein Mensch nur den Startknopf klickt, aber auch selbstständig Musik komponieren und beispielsweise Beethovens unvollendete zehnte Symphonie künstlich fertigstellen. Kurz – sie können durch ihre Programmierung, durch Training in unfassbarer Geschwindigkeit und auf der Basis einer gigantischen Datenlage blitzschnell zu selbstständigen Ergebnissen und Lösungen kommen, die wir Menschen, angewiesen „nur“ auf unsere begrenzten Erfahrungen und unseren Wissensbestand, nicht hätten schlussfolgern können. Eine in der Tat und im Wortsinn vielversprechende Technologie.
Da die Menschen aber – ja sogar die Bayern – nicht genau wissen können, was am Ende ein selbstlernendes Computersystem als Ergebnis präsentiert und vor allem, wie davon die bayerische Wirtschaft und auch die Gesellschaft profitieren können, braucht es ganz schnell massive Grundlagenforschung, sonst überflügelt die Konkurrenz auf dem schnelllebigen Technologiemarkt. Und massiv sind die finanziellen Anstrengungen, die nun 2020 bis 2025 unternommen werden, um die Schlüsseltechnologie KI urbar zu machen. Die im Oktober 2019 verkündete Hightech Agenda Bayern bündelt ein Künstliche-Intelligenz- und Supertech-Programm mit 600 Millionen, ein Sanierungs- und Beschleunigungsprogramm mit 600 Millionen, eine Hochschulreform mit 400 Millionen sowie eine Mittelstandsoffensive mit 400 Millionen Euro. Insgesamt bringt Bayern also bis zum Ende der Legislaturperiode zwei Milliarden Euro auf, „um den Freistaat in die Zukunft zu beamen“. Allein 1.000 neue Professuren mit insgesamt 30.000 Studienplätzen für Technik und Informatik sollen im Zuge dessen in ganz Bayern eingerichtet werden, 100 allein für die Beforschung der Künstlichen Intelligenz. Die Bundesrepublik als Ganze will mittelfristig lediglich 100 KI-Lehrstühle ausloben. „Wir kleckern nicht, wir klotzen. Wir beginnen nicht irgendwann, sondern sofort“, subsummierte der CSU-Vorsitzende und Ministerpräsident Markus Söder noch Anfang Februar 2020 anlässlich des Hightech Summit der Bayerischen Staatsregierung.
Und dann kam die Corona-Pandemie und Bayerns Bürger mussten wochenlang kollektiv zuhause bleiben, wie im Venedig des 16. Jahrhunderts, als die Pest wütete. Die Künstliche Intelligenz hat (noch) weder einen Impfstoff entwickelt, noch eine Strategie zur Abmilderung wirtschaftlicher Folgen hervorgebracht – trotz der vielversprechenden Technologie.
Die Welt steht still und zurückgeworfen auf sich selbst erkennt jeder Einzelne wieder, worum es eigentlich geht: Gesundheit, Mitmenschlichkeit, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Durch die Unterbrechung des profitgetriebenen Stakkatos unserer Lebenswirklichkeit durch die Pandemie haben wir die Möglichkeit, die Digitalisierung und die mit ihr inflationär auftretenden Buzzwords mithilfe unserer natürlichen Intelligenz neu zu bewerten. Nicht zum Selbstzweck, sondern als Werkzeug wie Hammer und Pflug sind die digitalen Tools wirklich menschendienlich und hilfreich: Via Social Media unkompliziert Nachbarschaftshilfe organisieren, wie es viele, auch zahlreiche JU-Verbände während der Pandemie leisteten, intersektoraler digitaler Wissenstransfer im Gesundheitssystem, die Lernplattform Mebis, die Videotelefonie mit den Großeltern – all diese Errungenschaften der Digitalisierung sind nun in allen Gesellschafts- und Altersschichten angekommen und die Wahrnehmungsgrenze zwischen (digitaler) Technologie und analoger Empfindung ist überwunden.
Die Pandemie wird in Zukunft als Zäsur, als kollektiver Einschnitt empfunden werden. Die Frage nach der Menschendienlichkeit, nach der Nachhaltigkeit und nach dem Gemeinwohl wird lauter gestellt werden als zuvor. Christlich-soziale Digitalpolitik ist darauf gut vorbereitet: Sie stellt weniger den Fortschritt, das prozentzahlenhörige Wachstum und den Wettbewerb, sondern den Menschen aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit in den Vordergrund. Dort, wo der Fortschritt der Allgemeinheit und ihrer Gesundheit, dem Menschen für sein gesellschaftliches Zusammenleben und seine Selbstbestimmtheit nutzt, befördert sie und reglementiert dort rigoros, wo der Fortschritt droht, die Natur und die unantastbare Würde des Menschen zu überholen und aus den Augen zu verlieren. Daher hört die Digitalstrategie aus christlich-sozialer Sicht nicht dort auf, wo Breitbandausbau und Wertschöpfungskette enden. Christlich-sozialer Digitalpolitik genügt weder eine simple Etikettierung mit „digital“, oder „4.0“, oder „Supertech“, sondern sie erklärt das Cui-bono und macht den Nutzen für das Gemeinwohl transparent. Die Digitale Revolution erfordert wegen der komplexen, für viele unverständlichen Funktionsweise von Algorithmen mehr denn je Aufklärung.
Aufklärung, das wissen wir seit Immanuel Kant, braucht offenen, faktenbasierten und kritischen Dialog mit allen Beteiligten. Und so werden die größten Errungenschaften der CSU-geführten Staatsregierung Bayerns während der digitalen Revolution auf lange Sicht zwei zukunftsweisende Gründungen sein: die weitvernetzte Wissenstransferinstitution, das Zentrum Digitalisierung Bayern (ZD.B) und die exzellente Zukunftsforschungs- und Technologiebewertungsinstitution, das Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt). Nicht als Feigenblatt, sondern als Kernbestandteil von Technologieentwicklung macht Werteorientierung den Unterschied zu den haltlosen Heilsversprechungen des Silicon Valley oder dem repressiven Techno-Autoritarismus aus China. Das geht vielleicht nicht ganz so schnell, wie es der globale Wettbewerb erfordert, aber es wird sich für das Gemeinwohl auf lange Sicht auszahlen.
Es steht nämlich nicht nur die Künstliche Intelligenz in den Startlöchern: Die Distributed-Ledger-Technologie (eine von vielen ist die Blockchain), Augmented-/Mixed-/Virtual Reality, Batterie- und Kraftstoffforschung als eine Variante von CleanTech, Quantencomputing und, nicht zu vergessen, die Fusionsenergie sind bereits Realität, wenn auch nur in Laboren und beeindruckenden Showcases. Gerade Letztere, die Erforschung der Fusionsenergie als klima- und umweltfreundliche Alternative zeigt beispielhaft, wie lange der Atem sein muss, damit am Ende eine menschendienliche Technologie die Zukunft beherrschen kann. Der CSU-Ministerpräsident Hans Ehard legte den Grundstein für das Institut für Plasmaphysik mit dem Ziel der Erforschung der plasmaphysikalischen und technologischen Grundlagen zur Erschaffung eines Fusionsreaktors. ASDEX Upgrade in Garching und der internationale Testreaktor ITER versprechen heute, dass die Fusionstechnologie Mitte unseres Jahrhunderts wirtschaftlich nutzbar sein wird. Es kann sich ein an derer CSU-Ministerpräsident dann in 30 + X Jahren rühmen, das Next Big Thing für Bayern nutzen zu können, weil es der CSU gelang, menschendienliche Digitalpolitik fortzuführen. Sie wird Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen befähigt werden können, selbstverantwortlich ihr globalvernetztes, digitalisiertes Arbeits- und Privatleben zu gestalten. Wenn Künstliche Intelligenz, 3D-Druck und Robotik menschliche Fähigkeiten in den Schatten stellen, dann müssen massiv jene Fähigkeiten befördert werden, die wir vernetzten Maschinen voraushaben: Kreativität, Fähigkeit zu Empathie, Verständnis für Solidarität und Subsidiarität. Das kann eine Partei durch Beschlüsse oder ein Staat durch Gesetze genauso wenig durchsetzen wie die ebenso wichtige Fähigkeit zur Anpassung, zu Resilienz, zur Toleranz oder zur mitfühlenden Nächstenliebe – aber fruchtbaren Boden können sie für die Next Big Things der Zukunft bereiten.
Christoph Keese, Silicon Germany. Wie wir die digitale Transformation schaffen, München 2016.
Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019.
Maximilian Th. L. Rückert, Wie kann Digitalpolitik christlich-sozial gestaltet werden?
Ein Gedankenimpuls zur aktuellen Debatte, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Argumentation Kompakt 01/2018.