Unter Strom – Die CSU und die energiepolitische Herausforderung

Thomas Schlemmer

Die Achillesferse

Dass Bayern einmal zu den wirtschafts- und finanzstärksten deutschen Ländern zählen würde, war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht abzusehen; der noch stark agrarisch geprägte Freistaat hatte im Gegenteil mit großen Strukturproblemen zu kämpfen. Dabei war die ökonomische Schwäche Bayerns vor allem eine Folge der gebremsten Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die das dünn besiedelte und rohstoffarme Land nur zögerlich und punktuell erfasst hatte. Was fehlte, waren vor allem fossile Energieträger wie Steinkohle, die anderswo zum Motor ökonomischen Wandels avancierten. Bayern wurde zunehmend von Importen abhängig, und diese Abhängigkeit beschränkte die wirtschaftlichen Entwicklungschancen ebenso wie die (außen-)politischen Handlungsspielräume. Im Jahr 1900 wurden lediglich 13 Prozent der Steinkohle und 39 Prozent der Braunkohle in Bayern selbst gefördert; der Rest stammte aus Böhmen oder aus anderen Regionen des Deutschen Reichs wie dem rheinisch-westfälischen Kohlerevier. Diese unbefriedigende Situation rief schon früh die politischen Entscheidungsträger auf den Plan. Tatsächlich reichen die Anfänge einer staatlichen Energiepolitik in Bayern bis zur Jahrhundertwende und damit weiter zurück als in den meisten anderen Teile Deutschlands, wobei es vor allem darum ging, die Wasserkraft als preisgünstige heimische Energiequelle planmäßig zu erschließen und zur Stromerzeugung zu nutzen. Trotz dieser Anstrengungen beruhte Bayerns Energieversorgung vor 1939 zu rund 80 Prozent auf überwiegend importierter Kohle.

Nach 1945 stand die bayerische Politik vor einer doppelten Herausforderung: Es galt, die Energieversorgung des Freistaats trotz des Verlusts traditioneller Bezugsquellen, die nun hinter dem Eisernen Vorhang lagen, zu sichern, zugleich aber nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die Abhängigkeit von Importen zu verringern. Zu den wichtigsten Protagonisten gehörten Hanns Seidel – Wirtschaftsminister zwischen 1947 und 1954, CSU-Vorsitzender von 1955 bis 1961 und Bayerischer Ministerpräsident zwischen 1957 und 1960 – sowie Otto Schedl, der seine Karriere 1947/48 als Landesgeschäftsführer der CSU begonnen hatte, bevor er sich seit 1957 als langjähriger Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr in den Kabinetten von Hanns Seidel, Hans Ehard und Alfons Goppel einen Namen machte.

Der Energieverbrauch galt in den Jahren des Wiederaufbaus und des „Wirtschaftswunders“ als zentraler Indikator für Wachstum und Wohlstand. 1950 wurden in Bayern bereits rund 14 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten (SKE) Energie verbraucht. Beinahe zwei Drittel des Energiebedarfs deckte die Kohle, während mehr als 18 Prozent aus Wasserkraftwerken stammten; Mineralölprodukte rangierten mit 5,7 Prozent noch weit hinter Kohle und Wasserkraft. 1973, am Ende des großen Booms, sah die Szenerie grundlegend anders aus: Der Primärenergieverbrauch betrug nun 48,5 Millionen Tonnen SKE und hatte sich damit mehr als verdreifacht. Davon wurden aber nur noch etwas mehr als 14 Prozent durch Kohle und etwas mehr als neun Prozent durch Wasserkraft gedeckt. Der wichtigste Energieträger war nun das Mineralöl, dessen Anteil an den Energieträgern auf knapp 67 Prozent angewachsen war.

Bayerns Ruhrgebiet

Dieser Anstieg kam nicht von ungefähr, sondern hatte eine entscheidende strukturpolitische Komponente. Es war Wirtschaftsminister Otto Schedl, der zusammen mit Enrico Mattei, dem Generaldirektor des staatlichen italienischen Energiekonzerns ENI, die Weichen für ein bayerisches Raffineriezentrum stellte. Während es Schedl darum ging, billiges Öl nach Bayern zu holen, um den Energiepreis zu senken, den Verbrauch zu erhöhen und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln, ging Mattei aggressiv auf die Jagd nach Marktanteilen. Die Dynamik, die sich aus dieser Kooperation ergab, führte schließlich zu einem energiepolitischen Großprojekt im Raum Ingolstadt, an dem neben der ENI auch andere Branchenriesen wie Esso, Shell oder BP beteiligt waren. Kern des Unternehmens war der Bau von drei Pipelines, mit denen das Schwarze Gold kostengünstig von den Ölhäfen nach Bayern transportiert und dann vor Ort verarbeitet werden sollte. Die Central European Line (CEL) verlief von Genua über Mailand nach Lugano, am Bodensee entlang in Richtung Neu-Ulm, wo die Pipeline nach Nordosten in Richtung Donau abzweigte. Die ersten Spatenstiche für diese Ölleitung, die etwa 650 km lang werden und jährlich bis zu acht Millionen Tonnen Rohöl nach Bayern pumpen sollte, erfolgten Ende Juni 1961. Als zweite Pipeline wurde die Rhein-Donau-Ölleitung (RDO) mit einer Kapazität von acht Millionen Jahrestonnen in Angriff genommen, die letztlich nichts Anderes war als eine Verlängerung der 1958 projektierten und 1962 fertiggestellten Südeuropäischen Pipeline (SEPL), die vom Mittelmeerhafen Lavéra bei Marseille nach Karlsruhe reichte.

1963 nahm man das dritte und ambitionierteste Projekt Fahrt auf: die Transalpine Pipeline (TAL) von Triest über Österreich nach Oberbayern. Obwohl die Trasse fast die kürzeste Verbindung zwischen der nordöstlichen Adria und dem Großraum München darstellte, betrug die Länge der Pipeline mit ihren in der ersten Ausbauphase fünf Pumpstationen noch immer mehr als 460 km. Der Rohrdurchmesser wurde auf 100 cm festgelegt; damit galt die TAL dem „Donau-Kurier“ als die „kräftigste Ölader Europas“. Insgesamt hatte die TAL auf ihrem Weg nach Bayern 30 größere Flüsse zu queren, darunter den Isonzo, an dessen Ufern während des Ersten Weltkriegs eine Serie blutiger Schlachten stattgefunden hatte und wo die alten Minenfelder noch immer eine ernsthafte Gefahr für die Arbeiter darstellten. Am Felbertauern war mit 1.550 m über dem Meeresspiegel der höchste Punkt erreicht, bei Kufstein überquerte die Pipeline die deutsche Grenze; von dort führte der Weg durch das bayerische Voralpenland an Rosenheim vorbei weiter nach Norden, ihrem Endpunkt im mittelbayerischen Donaugebiet zu.

Die drei Pipelines bildeten das Versorgungsnetzwerk für fünf Erdölraffinerien, die zwischen 1963 und 1968 ihren Betrieb aufnahmen. In wenigen Jahren entstand zwischen Ingolstadt, Neustadt an der Donau und Vohburg ein Raffineriezentrum, das 1970 bereits knapp ein Fünftel der westdeutschen Produktion bereitstellte. Kein Wunder, dass die Region Ingolstadt als „Herz der bayerischen Energieversorgung“ und „Bayerns Ruhrgebiet“ gefeiert wurde. Eine Radio-Journalistin ließ 1966 ihrem Entzücken über eine Industrie, die heute als Symbol eines untergehenden Zeitalters gilt, freien Lauf: „Doch es ist nicht die Leistung der Ölraffinerien, die mich entzückt, sondern der Anblick der Ölraffinerien: reine Zweckbauten, gewiß, eine bis ins Kleinste verästelte Konstruktion aus Röhren und Röhrchen, hohen Türmen, niedrigen Kuppeln, doch alles aus so hellem, glänzendem Metall, daß ich, wüßte ich es nicht anders, denken würde, Silberschmiede hätten hier fünfmal vollkommene, wenn auch vollkommen abstrakte Kunstwerke auf die Ebene gestellt, nur rein zur Zierde, nur um der Horizontalen die Vertikale zu geben.“

Im Zeichen der Energiewende

Erdöl löste also in den 1960er-Jahren Kohle als wichtigsten Energieträger in Bayern ab. Dadurch ließen sich zwar Kosten senken – zumal im Verein mit regionalen Verarbeitungskapazitäten –, aber die Importabhängigkeit blieb bestehen. Dies zeigte sich erstmals 1973 in der sogenannten Ölkrise, die durch drastische Preiserhöhungen bei gleichzeitiger Verknappung des Angebots durch die arabischen Ölförderländer ausgelöst wurde. Die CSU-geführte bayerische Staatsregierung und ihr Wirtschaftsminister Anton Jaumann reagierten mit einer Intensivierung ihrer Atompolitik, die 1956/57 mit der Errichtung des Forschungsreaktors in Garching bei München ihren Anfang genommen hatte. Ein Netz von Atomkraftwerken sollte vor allem die Stromversorgung Bayerns auf Dauer sicherstellen und den Freistaat von Importen unabhängiger machen, zumal in Wackersdorf auch eine Anlage zur Wiederaufarbeitung verbrauchter Brennstäbe geplant wurde. Wenngleich dieses Projekt am Widerstand der immer zahlreicheren Atomkraftgegner scheiterte, blieb die Bedeutung der Kernenergie hoch: 1995 deckte sie circa 26 Prozent des Primärenergieverbrauchs und 64 Prozent der Stromerzeugung in Bayern. Die Energiewende nach der Katastrophe von Fukushima im März 2011 und die sukzessive Abschaltung der Atomkraftwerke bedeuten für die bayerische Politik daher eine doppelte Herausforderung: Zum einen muss die Energieversorgung auf eine neue Basis gestellt werden, zum anderen gilt es auch, nicht in mühsam überwundene Abhängigkeiten zurückzufallen, die auch politische Handlungsspielräume begrenzen könnten.

Literatur

Stephan Deutinger, Eine „Lebensfrage für die bayerische Industrie“. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 33-118.

Stephan Deutinger, Garching. Das Atom-Ei – ein Symbol des Fortschritts?, in: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hrsg.), Schauplätze der Geschichte in Bayern, München 2003, S. 426-446.

Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010.

Jens van Scherpenberg, Hjalmar Schacht, Enrico Mattei und Bayerns Anschluss an das Ölzeitalter, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015) S. 181-226.

Thomas Schlemmer, Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975, München 2009.