Was bewirkte der Gang nach Karlsruhe?

Stephan Oetzinger

Nach langem Hin und Her hatte sich der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß gegenüber Minister­präsident Alfons Goppel durchgesetzt: Trotz der zurückhaltenden Position Goppels war es Strauß gelungen, eine Mehrheit im Bayerischen Ministerrat davon zu überzeugen, dass Bayern von seinem Recht Gebrauch machen sollte, Normenkontrollklage gegen den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR einzureichen. Dabei war es die Zielsetzung der Bayerischen Staatsregierung und der CSU, durch die Klage deutlich zu machen, dass der von der Regierung Brandt mit der DDR geschlossene Vertrag gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verstoße und somit verfassungswidrig sei.

Das Urteil des obersten bundesdeutschen Gerichts erging noch vor der politischen Sommerpause am 31. Juli 1973 und stellte dabei folgendes fest: „Das Gesetz zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik […] ist in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.“

Erfolg oder Niederlage?

Damit war die bayerische Klage gegen den Vertrag rein juristisch betrachtet gescheitert. Doch kam es damit wirklich zu einer Niederlage Bayerns und der CSU? Bei der näheren Betrachtung der Frage, was der sogenannte Gang der Bayerischen Staatsregierung nach Karlsruhe bewirkte, muss man sich das Urteil und dessen Wirkung auf die Deutschlandpolitik genauer ansehen. Auf den ersten Blick erklärten die Bundesverfassungsrichter den Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR für verfassungskonform, jedoch nicht ohne für eine verbindliche Interpretation zu sorgen, also klare Richtlinien vorzugeben, unter denen der Grundlagenvertrag dem Grundgesetz nicht widersprach. Dementsprechend resümiert der Rechtswissenschaftler Dieter Blumenwitz, dass die Richter in Karlsruhe mit ihrem Urteil eine richtungsweisende Entscheidung für die künftige Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland getroffen hatten, als dass sie den Handlungsspielraum in Bezug auf dieses Politikfeld klar begrenzten.

Das Urteil legte im Einzelnen fest, dass mit der Schaffung der Bundesrepublik Deutschland kein neuer Staat entstanden war, sondern lediglich ein Teil Deutschlands reorganisiert wurde, also die Bundesrepublik nicht Rechtsnachfolger des „Deutschen Reiches“ sei, sondern mit diesem identisch, wenn sich auch die Ausdehnung nur auf Westdeutschland erstreckte. Die Konsequenz aus dieser Formulierung war, dass das Bundesverfassungsgericht eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik als verfassungswidrig einstufte. Der ostdeutsche Staat blieb nach den Worten des Urteils vom 31. Juli 1973 ein Teil Deutschlands. Die DDR war zwar völkerrechtliches Subjekt, die deutsch-deutsche Grenze hatte jedoch nur den Charakter einer Staatsgrenze. Beide, Bundesrepublik und DDR, blieben demnach Teil Gesamtdeutschlands. Zugleich stellte das Urteil klar, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht nur für Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland galt, sondern dass diese Rechte und der Anspruch auf Schutz ebenso für die Bürgerinnen und Bürger der DDR fortbestand. Auch wurde in dem Urteil deutlich, dass die Richter das Land Berlin als ein Bundesland der Bundesrepublik Deutschland ansahen und damit auch den Schutz von dessen Status allen Bundesorganen auferlegten.

Gerade in dieser Frage der Auslegung des Grundlagenvertrages durch das Verfassungsgericht sah die CSU ihren Erfolg. Sowohl Ministerpräsident Goppel als auch Strauß betonten in ihren Stellungnahmen, dass die enge Begründung der Verfassungskonformität des Vertrages zwischen Bundesrepublik und DDR das erklärte Ziel des Gangs nach Karlsruhe war. So sei es nicht die Absicht Bayerns gewesen, den Vertrag grundlegend zum Scheitern zu bringen, sondern den Geist, in dem er geschlossen wurde, und zugleich den Vorrang des Grundgesetzes vor demselben herauszuheben.

Die Konsequenzen aus der Klage Bayerns gegen den Grundlagenvertrag

Mit der Klage war es Bayern und damit der CSU gelungen, einen von der sozial-liberalen Regierung gewünschten stillen Verfassungswandel, welcher die Aufgabe von Rechtspositionen vorausgesetzt hätte, durch einen statischen Staatsbegriff gemäß dem Urteil der Karlsruher Richter zu unterbinden.

Trotz der formellen juristischen Niederlage war der CSU mit ihrem Gang nach Karlsruhe ein großer politischer Erfolg gelungen, der insbesondere in der Wendephase der 1989/90 noch von zentraler Bedeutung sein sollte. Bei einer Betrachtung aller deutschlandpolitischen Aktivitäten der Christlich-Sozialen Union nach dem Regierungswechsel 1969 ist wohl zu sagen, dass gerade diese Normenkontrollklage einer der größten Erfolge der bayerischen Unionspartei auf diesem Politikfeld war. Durch die Klage waren mehrere Ziele der CSU erreicht worden: Zunächst wurde, durch die für alle Verfassungsorgane verbindliche Auslegung des Grundlagenvertrages, einer Fortentwicklung der Deutschlandpolitik der SPD/FDP Regierung hin zu einer tatsächlichen völkerrechtlichen Anerkennung der deutschen Teilung ein Riegel vorgeschoben. Des Weiteren erreichte man durch den Richterspruch weitreichende Bestimmungen wie das Beibehalten der deutschen Staatsbürgerschaft für Bürgerinnen und Bürger der DDR, die damit die Möglichkeit zur Flucht bzw. der massenhaften Übersiedlung in der Wendephase ab dem Sommer 1989 behielten. Auch den Weg zur deutschen Einheit über den Beitritt der fünf neuen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland über den Artikel 23 des Grundgesetzes konnte man nun beschreiten. Mit dem von der CSU angestoßenen Urteil festigte das Bundesverfassungsgericht zahlreiche Rechtspositionen und gab der Deutschlandpolitik der Bundesrepublik eine deutliche Richtung und Leitplanken, innerhalb derer sich diese bewegen konnte.

Literatur

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 – 2 BvF 1/73 in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation zum Urteil vom 31. Juli 1973 über die Vereinbarkeit des Grundlagenvertrages mit dem Grundgesetz, Karlsruhe 1975, S. 383-403.

Dieter Blumenwitz, Bayern und Deutschland, in: Ludwig Huber (Hrsg.), Bayern, Deutschland, Europa. Festschrift für Alfons Goppel, Passau 1975, S. 41-62.

Ders., Die Christlich-Soziale Union und die deutsche Frage, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945-1995, Grünwald 1995, S. 333-365.

Stephan Oetzinger, Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Diss. Universität Regensburg 2016.