„Wir kennen Eure Not, liebe Neubürger“…

Raimund Paleczek

„Neubürger!“  – Mit einem knappen und nachdrücklichen Grußwort wandte sich der CSU-Parteivorsitzende Josef Müller im November 1946 an fast zwei Millionen Menschen deutscher Sprachherkunft, die es zu Kriegsende 18 Monate zuvor noch nicht in Bayern gegeben hatte! Machtpolitisches Kalkül und der Wunsch nach Vergeltung an dem NS-Regime hatten die alliierten Siegermächte und die von ihnen befreiten ostmitteleuropäischen Staaten veranlasst, binnen zweier Jahre die wohl gewaltigste staatlich geplante Bevölkerungsverschiebung in der Geschichte Europas durchzuführen. Etwa 12 Millionen Deutsche mussten ihre Heimat verlassen. Die meisten wurden nach Deutschland, das es eigentlich gar nicht mehr gab, zwangsausgesiedelt. Bis Ende 1946 wurden knapp 10 Millionen dieser Heimatlosgewordenen in die vier Besatzungszonen der Alliierten gespült, ein Drittel davon in die Sowjetische Zone.

Der Alliierte Kontrollrat hatte im Vollzug des Potsdamer Abkommens (2.8.1945) am 20.11.1945 einen Zahlenschlüssel für die Vertreibung festgelegt. In die US-Zone mit den Ländern Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden sollten 1,75 Mio. Deutsche aus der Tschechoslowakei zwangsausgesiedelt werden. Zum Jahres­ende 1945 befanden sich allein in Bayern bereits 734.000 Flüchtlinge. Zwischen Januar und November 1946 trafen 764 Eisenbahntransporte mit 777.000 Vertriebene in Bayern ein. In der Hochphase kamen täglich bis zu 8.000 Menschen. Insgesamt hatte zum Jahresende 1946 Bayern allein mit 1,7 Millionen Vertriebenen die für alle Länder der US-Zone vorgesehene Quote des Kontrollrats erreicht. Damit war jeder fünfte Einwohner Bayerns ein Flüchtling bzw. Vertriebener.

Flüchtlinge oder Vertriebene?

Bis 1949 sprach man offiziell von Flüchtlingen, obwohl James Pollock, Mitarbeiter des US-Militärgouverneurs, bereits im April 1946 zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen in Deutschland unterschieden hatte. Unter die erste Bezeichnung fielen demnach Deutsche, die kriegsbedingt vorübergehend heimatlos geworden waren, wogegen Vertriebene dauerhaft in Deutschland anzusiedeln waren, weil sie ihre Heimat verloren hatten. Erst mit dem Soforthilfegesetz (8.8.1949), dem Vorläufer des Lastenausgleichsgesetzes von 1952, und endgültig mit dem Bundesvertriebenengesetz (19.7.1953) setzte sich die Bezeichnung „Ostvertriebene“ bzw. „Heimatvertriebene“ durch.

Der Vertriebenenanteil an der Gesamtbevölkerung Bayerns blieb auch in den folgenden Jahren unverändert. 1950 hatte Bayern 1,93 Mio. Vertriebene, davon stammte über eine Million aus der Tschechoslowakei. An zweiter Stelle folgten 460.000 Schlesier. Zusammen waren das drei Viertel aller Heimatvertriebenen. Für diese Massen wurden hunderte Flüchtlingslager eingerichtet. Von anfänglich 1381 (!) Lagern bestanden zum Jahresende 1949 noch immer 511, in denen 100.000 Menschen untergebracht waren. Wegen der Wohnungsnot in den zerbombten Städten wurden die Vertriebenen vornehmlich auf ländliche Kommunen verteilt. 1949 lebten 70 Prozent in Gemeinden unter 4.000 Einwohnern.

Zur sozialen Not kam die seelische! Viele Neuankömmlinge glaubten, ihre Vertreibung sei ein böser Spuk und sie könnten eines Tages wieder in ihre Heimat zurückkehren. Die Verantwortlichen in West und Ost wie auch die Realisten unter den Vertriebenen aber wussten, dass dem nicht so sein wird. Soziale Hilfe und Eingliederung lautete das Gebot der Stunde! Aber durch welche Institutionen sollte das geschehen? Die Vertriebenen hatten zwar nur wenig materielle Habe im Gepäck, dafür aber reiche Erfahrung in der Hilfe durch Selbsthilfe! Vor allem die Sudetendeutschen konnten in ihren Reihen geübte Organisatoren und Politiker mit parlamentarischer Erfahrung aufweisen. Als Deutsche in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei waren sie eine nationale Minderheit, die sich gegenüber einer nationalistischen Staatsführung mit einer Selbstverwaltung auf allen Ebenen der öffentlichen Ordnung zu behaupten wusste.

Soziale Eingliederung der Vertriebenen

Parteien waren bis August 1945 noch nicht zugelassen, also musste man im vorpolitischen Raum zur Tat schreiten. Am 12.7.1945 wurde mit Unterstützung des Bayerischen Roten Kreuzes als erste Vertriebenenorganisation die „Hilfsstelle für die Flüchtlinge aus den Sudetengebieten“ (Sudetendeutsche Hilfsstelle) in München errichtet. Sie war ein Zentrum der Familienzusammenführung, Kontaktvermittlung und Eingliederungshilfe. Im Oktober 1945 stieß Hans Schütz (1901-1982) zu dieser Hilfsstelle sowie auch zu einer Hilfsstelle für die katholischen Vertriebenen in Süddeutschland, die am 6.10.1945 mit kirchlichen Mitteln gegründet worden war. Schütz kam aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung der Sudetendeutschen und war 1935-38 christlichsozialer Abgeordneter im tschechoslowakischen Parlament. Beide Hilfsstellen lieferten wichtige Kontaktmöglichkeiten und arbeiteten konfessionsüberschreitend.

Anfang 1946 stieß Schütz in die Dienstag-Runde des CSU-Vorsitzenden Josef Müller. Müller hatte die Sprengkraft des Flüchtlingsproblems für den Aufbau einer Demokratie einerseits und die Chance für die CSU als Anwalt der Flüchtlinge bzw. Vertriebenen andererseits erkannt. Schütz wiederum setzte auf ihre Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft und wandte sich gegen die Gründung einer Flüchtlingspartei. Zusammen mit dem Deutschbalten Baron Georg von Manteuffel-Szoege (1889-1962) und dem Schlesier Walter Rinke (1895-1983) organisierte Schütz die Vertriebenen in der CSU. Alle drei waren später Fraktionskollegen im Deutschen Bundestag. Für die weitere Entwicklung im Müller-Kreis war die interkonfessionelle Neuausrichtung entscheidend. Sie machte die CSU auch für Protestanten attraktiv, die es v. a. unter den Flüchtlingen und Vertriebenen aus den reichsdeutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße gab.

Älteste Arbeitsgemeinschaft der CSU

Im Frühjahr 1946 wurde im sozialpolitischen Ausschuss der CSU ein eigener Unterausschuss „Flüchtlingswesen“ gegründet. Aus ihm entstand im Mai 1946 der „Flüchtlingsausschuss“, der als älteste Arbeitsgemeinschaft der CSU gilt. Auf dem Landesparteitag in Eichstätt am 29.8.1946 erhielt die Arbeitsgemeinschaft die Bezeichnung „Union der Ausgewiesenen“ (UdA). Parallel zur staatlichen Flüchtlingsverwaltung Bayerns, die am 2.11.1945 beim Innenministerium ins Leben gerufen worden war, wurden in allen regionalen Gliederungen (Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände) CSU-Flüchtlingsausschüsse gegründet. Seit 1953 heißt die bis heute bestehende Arbeitsgemeinschaft „Union der Vertriebenen“ (UdV).

Als erste Partei in Bayern traf die CSU am 30.10.1946 in einem 30-Punkte-Programm mit einem Sonderprogramm klare Aussagen zur Überwindung der sozialen Flüchtlingsnot. Seine Eckpunkte bildeten die zügige Auflösung der Flüchtlingslager, der Bau von Wohn- und Siedlungshäusern, die Familienzusammenführung, die rasche Eingliederung in das Berufs- und Wirtschaftsleben, ein gerechter Lasten- und Vermögensausgleich sowie die Erfüllung berechtigter Pensions- und Rentenansprüche. Kurz darauf gründete der Parteivorsitzende Müller mit dem „Union-Flüchtlingsdienst“ ein eigenes Informationsblatt der CSU, das speziell die vertriebenenpolitischen Themen aufgriff (siehe Eingangszitat). Später war es Hanns Seidel, der in Hans Schütz‘ Erinnerung „wie ein Berserker für die Flüchtlingsposition gestritten hat.“

Mandat und Mitgestaltung

Die Heimatvertriebenen konnten noch nicht an den Gemeindewahlen (27.1.1946), den Kreistagswahlen (28.4.1946) und an den Wahlen zur Verfassunggebenden Landesversammlung (30.6.1946) teilnehmen. Bei der ersten Landtagswahl mit gleichzeitiger Abstimmung über die Verfassung am 1.12.1946 waren einige hunderttausend Neubürger erstmals wahlberechtigt. Die CSU schickte allerdings nur drei katholische Vertriebene ins Rennen: die beiden Sudetendeutschen Hans Schütz und Franz Ziegler (1899-1949) sowie den Schlesier Gerhard Kroll (1910-1963). Nur Kroll schaffte bei 104 Sitzen für die CSU den Einzug in den Landtag, Ziegler rückte im Oktober 1948 nach. Das war im Vergleich mit den anderen Parteien ein mageres Ergebnis: Von den 54 Mandaten der SPD gingen zwei an Vertriebene, u. zw. an den Schlesier Ewald Bitom und an den Sudetendeutschen Franz Röll. Bei der WAV (13 Sitze) und der FDP (9 Sitze) waren die Vertriebenen mit je einem Mandat vertreten (WAV Alfred Noske, FDP Kurt Weidner). Beide waren Schlesier.

Um die Integration der Vertriebenen in die CSU haben sich zwei Gremien besonders verdient gemacht. Zum einen die schon erwähnte „Union der Ausgewiesenen“ (UdA), zum anderen der „Hauptausschuss der Flüchtlinge und Ausgewiesenen“. Dieser war am 17.7.1946 als Beratungsgremium der bayerischen Flüchtlingsverwaltung gegründet und mit staatlichen Mitteln ausgestattet worden. Seine Mitglieder setzten sich aus Vertriebenen zusammen, die der Ministerpräsident ernannte. Schütz führte in beiden Gremien bis 1950 (Hauptausschuss) bzw. 1951 (UdA) den Vorsitz. Er war der geistige Mittelpunkt und Motor und wurde zur prägenden Integrationsgestalt zwischen den Neu- und Altbürgern Bayerns in der CSU. Nachfolger von Schütz wurden ebenfalls zwei sudetendeutsche Parlamentarier: in der UdA/UdV Karl Schubert (1905-1986), im Hauptausschuss Edmund Leukert (1904-1983). In beiden Gremien, die wesentliche Vorarbeit für das Flüchtlingsgesetz (19.2.1947) leisteten, dominierten die sudetendeutschen CSU-Vertriebenen. In den Kreistagswahlen 1948 errangen parteilose Zusammenschlüsse von Vertriebenen Mandate. Die UdA war in 23 Kreistagen neben der CSU mit eigenen Mandaten vertreten.

Die CSU als politische Heimat

Schütz, der zwischen 1949 und 1962 für die CSU im Bundestag den Wahlkreis Dillingen mit Traumergebnissen (1957: 63,8%) vertrat, forderte 1949: „Zwei Dinge müssen geschehen: 1. Deutschland muß erkennen, daß die Heimatvertriebenen zu seiner eigenen Schicksalsfrage geworden ist. 2. Die Heimatvertriebenen müssen erkennen, daß sie die Heimatlosigkeit mit all ihren schrecklichen Folgen nur dadurch überwinden, daß sie Deutschland zu ihrer eigenen Heimat machen.“ Trotz der Erfolge der Vertriebenenpartei BHE in den fünfziger Jahren war es die CSU, in der die Vertriebenen in Bayern zunehmend ihre politische Heimat fanden.

Literatur

Die Flüchtlinge in Bayern. Ergebnisse einer Sonderzählung aus der Volks- und Berufszählung vom 29. Oktober 1946 (Heft 142 der Beiträge zur Statistik Bayerns).

Franz J. Bauer, Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945-1950, Stuttgart 1982 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte Band 3).

Hans Schütz, in: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen Band 2, Boppard 1983, 195-234.

Hans Schütz, Helfer und Wegweiser in schwerer Zeit, München 1982 (Schriftenreihe der Ackermann-Gemeinde Heft 32).

Wolfgang Jaenicke, Vier Jahre Betreuung der Vertriebenen in Bayern 1945-1949, München 1950.

Martin Kornrumpf, In Bayern angekommen, München/Wien 1979 (Dokumente unserer Zeit Band 3).

Politisches Jahrbuch der CDU/CSU 1950 und 1954.