Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10.-23.8.1948) wird unter der Leitung von Anton Pfeiffer eröffnet. Die Vertreter der westdeutschen Länderregierungen und West-Berlins arbeiten einen Entwurf für eine Verfassung aus, der als Grundlage für die Beratungen des Parlamentarischen Rates dient.
„Der 10. August bezeichnet einen Aufbruch, einen Beginn, den Anfang des Weges zum freiesten, rechtlichsten und sozialsten Staat auf deutschem Boden.“
Mit diesen Worten würdigt Ministerpräsident Franz Josef Strauß anlässlich des 40-jährigen Jubiläums 1988 den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee. (Redemanuskript: ACSP, NL Strauß Slg Kray RA: 88/114)
Die Grundlage für den Verfassungskonvent bildet die Londoner Konferenz, die von Februar bis Juni 1948 in Form von zwei Sitzungsperioden (23. Februar bis 6. März, 20. April bis 2. Juni) stattfindet. Hierbei einigen sich die Außenminister der Benelux-Staaten, Englands, Frankreichs und der USA, die Gründung eines demokratischen, westdeutschen Staates zu ermöglichen. Am 1. Juli 1948 beauftragen die Westalliierten in Frankfurt am Main schließlich die Ministerpräsidenten Westdeutschlands durch die Übergabe der Frankfurter Dokumente offiziell mit der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung bis zum 1. September 1948. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee sollte für diese Versammlung, den Parlamentarischen Rat, einen Verfassungsentwurf ausarbeiten.
Die Austragung des Konvents im abgeschiedenen „Alten Schloss“ auf Herrenchiemsee geht auf die Initiative des damaligen Bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard zurück. Ehard hegt teils erfolgreich die Hoffnung, dass sich durch die Ausrichtung des Konvents in Bayern die stark ausgeprägten föderalistischen Ideen des Freistaates im Verfassungsentwurf besser berücksichtigen ließen. Geleitet wird der Konvent vom Chef der Bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer. Jeder Ministerpräsident entsendet je einen stimmberechtigten Delegierten sowie maximal zwei Berater ohne Stimmrecht. Bei den Teilnehmern handelt es sich um Politiker, Beamte, Wissenschaftler und Staatssekretäre, die größtenteils mit verfassungspolitischen Fragen bestens vertraut sind und vergleichsweise unabhängig von Parteigremien agieren können.
Der Verfassungskonvent beginnt mit Debatten im Plenum. Aus Gründen der Effektivität bildet man drei Unterausschüsse mit folgender thematischer Schwerpunktsetzung:
Die Resultate dieser Ausschüsse bespricht anschließend das Plenum, ohne jedoch bis zum Ende des Konvents am 23. August zu einem gemeinsamen Verfassungsentwurf zu gelangen. Dies übernimmt eine von Pfeiffer eingesetzte Redaktionskommission. Deren Tätigkeitsbericht enthält einen nahezu vollständigen Entwurf für das Grundgesetz. Im Hinblick auf eine später erhoffte gesamtdeutsche Staatsgründung wählt man dabei bewusst die provisorische Bezeichnung „Grundgesetz“ statt Verfassung. Bei strittigen Punkten wie der Gestaltung einer dem Parlament gegenüberstehenden Ländervertretung als Bundesrat oder als Senat nimmt die Kommission zudem jede diskutierte Version in den Entwurf mit auf.
Obwohl dieser Verfassungsentwurf keine Regierungsvorlage darstellt, bildet er dennoch die Grundlage für die Verfassungsarbeit im Parlamentarischen Rat. Dies wird anhand starker Überschneidungen in Gliederung, Formulierung und Inhalt zwischen Verfassungsentwurf und Grundgesetz deutlich, wie dieses Beispiel zeigt:
Entwurf im Tätigkeitsbericht Herrenchiemsee (Art. 1 Abs. 2) | Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1) |
„Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“ | „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ |
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Verfassungskonvents hält der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber 1998 somit treffend fest, dass „das Grundgesetz im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee in wesentlichen Zügen vorbereitet und entwickelt“ wurde. Anknüpfend an das eingangs erwähnte Strauß-Zitat bezeichnet auch er den Verfassungskonvent als „eine der wichtigen Stationen der Länder in den westlichen Besatzungszonen auf dem Weg zur Bundesrepublik Deutschland“. (Redemanuskript: ACSP, PS I Stoiber RS 1998: 0809)
Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen (Hrsg.): Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, München 1948.
Fait, Barbara: Auf dem Weg zum Grundgesetz. Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 1948 (Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 21), Augsburg 1998.
Kirsch, Angelika: Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 10.-23. August 1948, publiziert am 16.06.2014; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Verfassungskonvent_von_Herrenchiemsee,_10.-23._August_1948 (11.05.2023).
Wengst, Udo: Herrenchiemsee und die Konstellation des Jahres 1948, in: Peter März, Heinrich Oberreuter (Hg.), Weichenstellung von Deutschland. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, München 1999, S. 41-51.
Autor: Stefan Obermeier