Der ewige Mythos CSU - wie's wirklich ist

Markus Blume

Im 75. Beitrag muss also der Generalsekretär ran. Zugegeben, es wäre auch seltsam, wenn zum 75. Jubiläum der Christlich-Sozialen Union nach 74 Beobachtungen Schluss wäre. Nun aber auch noch Enthüllungen!? In Bayern gibt es die Redensart: Es wird nirgends so viel gelogen wie vor der Hochzeit, bei der Beerdigung und nach der Jagd. Im Umkehrschluss muss das bedeuten, dass beim Jubiläum einer Partei, noch dazu beim 75-jährigen der CSU, wohl vor allem die Wahrheit gesprochen und geschrieben wird. Deshalb eine Offenbarung gleich vorweg: Nein, wir sind keine Heiligen und wollen es auch nicht werden. Wir hatten in den 75 Jahren unsere Ambivalenzen. Wir sind weder eine Partei der makellosen Cäsaren noch der verträumten Waldgänger. Was wir dagegen ganz sicher sind: Eine einzigartige politische Gemeinschaft, die die bayerische Urgewalt mit der Idee der modernen Volkspartei verbindet und damit eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte hingelegt hat.

Jetzt wäre es als Enthüllung zu wenig wie erwartbar, wenn damit die CSU einfach zum Mythos erklärt werden würde. Untauglich wäre auch jeder Versuch, eben diesen Mythos CSU erklären zu wollen. Ein Mythos lebt vom Umstand, nicht genau zu wissen, worin er gründet – zumal es sich die CSU im Mythos nie selbst bequem gemacht hat. Aber ein gewisses Erkenntnisinteresse kann mancher Zeitgenosse nicht verleugnen: Wovon lebt diese CSU? Was macht sie aus? Und was besonders? Im 75. Beitrag kann man ruhig ins Risiko gehen. Lassen Sie uns– streng vertraulich – einen kleinen Blick in das Handbuch für CSU-Generalsekretäre werfen:

Vom richtigen Maß Weihrauch: Tradition leben, ohne die Zukunft zu schwärzen

Wir konkurrieren nicht um den Titel der traditionsreichsten Partei Deutschlands – zumindest diesen Erfolg lassen wir der SPD gerne. Aber die CSU ist sicherlich die traditionsstärkste unter allen Parteien. Zum Traditionsbestand des Freistaats gehöre die CSU, sagen die einen (stimmt wohl). „Laptop und Lederhose“ hätte die CSU als ultimative Traditionsformel erfunden, mutmaßen die nächsten (stimmt gefühlt, tatsächlich war es Bundespräsident Roman Herzog). Bei der Verehrung ihrer Vorväter wie Franz Josef Strauß könne es die CSU locker mit der Heiligenverehrung in der katholischen Kirche aufnehmen, provozieren schließlich andere (stimmt nur, soweit es nicht bösartig oder gar blasphemisch vorgetragen wird). Wahrer Kern ist sicherlich, dass wir sehr bewusst aus unserer Geschichte heraus leben und mit dem notwendigen Weihrauch nicht geizen. Ohne Herkunft keine Zukunft, lautet die schlichte Begründung dafür, dass Tradition weder Kunstwerk noch Selbstzweck ist. Nur übertreiben sollte man es eben nicht mit dem Weihrauch – wer will schon geschwärzte Heilige oder eine vernebelte Zukunft? Am Ende entscheidet wie überall die richtige Balance: Wer nur aus der Vergangenheit schöpft, ist ein vergessener Reaktionär. Wer dagegen nur auf morgen hofft, ist schon heute ein verlorener Utopist. Da loben wir uns den Konservativen, der in der Gegenwart lebt und an der Spitze des Fortschritts marschiert. Im Fall der CSU sind wir damit in den letzten 75 Jahren ziemlich weit gekommen, deutlich weiter jedenfalls, als unsere Gründer je hofften und unsere Gegner je fürchteten.

Die Prägekraft einer Gleichung: Wie Bayern und die CSU eins werden konnten

Wir sind Bayern. Damit ist in diesem Kapitel eigentlich schon alles gesagt. Das Weitere könnten bloße Fußnoten zur Gründungsgeschichte, zum Parteinamen (Christlich-Soziale Union in Bayern) und zum Grundsatzprogramm („Die CSU ist die bayerische Partei“) sein. Und dennoch lohnt es, tiefer zu schürfen. Die Erfolgsgeschichte der CSU beginnt genau hier: Die CSU trägt Bayern nicht nur im Namen, sondern auch im Herzen. Das klingt für Menschen, die nicht mit christsozialer Muttermilch großgezogen wurden, nach viel Pathos – dabei ist es noch mehr Praxis: Die CSU hat immer für das Land, nie vom Land gelebt. In mehr als sechs Jahrzehnten ununterbrochener Regierungszeit wurde so das moderne Bayern durch die CSU geprägt. Das ist aber nur die eine Seite der Gleichung Bayern = CSU. Das wirklich Besondere an der CSU ist dann zu verstehen, wenn man sich auf die Suche nach der Besonderheit Bayerns macht. Der Mythos Bayern – diese Melange aus kulturlandschaftlicher Schönheit, ökonomischer Potenz und bajuwarischem Mia-san-mia-Selbstbewusstsein – setzte über zum Mythos CSU. Richtig rund wurde die Geschichte von der Gleichung Bayern = CSU aber erst durch die bayerische Opposition, die politische wie die journalistische. Die SZ-Legende Herbert Riehl-Heyse schrieb von der CSU als der Partei, „die das schöne Bayern erfunden hat“. Noch besser – weil nicht mit feiner Ironie, sondern mit ehrlicher Entrüstung – ließen sich die bayerischen Grünen unter Sepp Daxenberger und die Bayern-SPD mit Franz Maget ein. Ganz ehrlich: Wir hätten uns nie getraut zu behaupten, dass wir den Chiemsee ausgehoben, damit die Alpen aufgeschüttet und nebenbei noch den Himmel weiß-blau angemalt haben. Aber wenn wir dafür schon kritisiert werden, … – dann kann man’s auch einfach mal so stehen lassen. Wie auch immer: Heutzutage ist auf die tätige Mithilfe der Opposition kein Verlass mehr, so dass es an uns liegt: der feine Seismograph für Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl in Bayern zu bleiben.

Die Idee der Union: Wenn’s mal länger dauert, aber immer richtig ist

Der Gedanke war nach dem Scheitern der Weimarer Republik, den Schrecknissen des Nationalsozialismus und dem politischen Neuanfang 1945 bestechend: Nie mehr darf konfessionelle Spaltung zu politischer Spaltung führen. Eine Partei aller Christen sollte es sein, darum der Name Union. Wenn man in der 75-jährigen Geschichte der CSU die große Vokabel des Politischen sucht, dann mag es tatsächlich diese sein: Integrationskraft. Gut, manches hat dann länger gedauert: Die Protestanten in der CSU waren zwar von Beginn an mit dabei, brachten aber Jahrzehnte in der Diaspora zu. Mit dem ersten evangelischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein – noch dazu gleich ein „Synodaler“ – und spätestens mit Markus Söder als Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden hat eine konfessionelle Unaufgeregtheit Einzug gehalten. Wobei: Das altbayerische CSU-Vorzeigeexemplar Peter Gauweiler versetzt noch heute manchen Zeitgenossen ins Staunen, wenn er mit Verve vom Protestantismus als Vollkornbrot seines Glaubens spricht. Apropos Glaube: Natürlich steht die CSU heute allen offen, die sich zu den christlichen Grundwerten bekennen – unabhängig vom persönlichen Glauben. Eine alle Gruppen vereinigende Politik aus dem „C“ heraus hat so über die Jahre eine gewaltige Attraktion entwickelt. Die Kraft der CSU als Sammlungsbewegung, als Volkspartei, als politische Klammer des Landes ist unbändig. Gläubige und Agnostiker, Unternehmer wie Arbeitnehmer, vom alteingesessenen Dorfbewohner bis zum kosmopolitischen Großstädter: Sie alle bringt die CSU zusammen. Einheit in Vielfalt, das ist ein ziemlich buntes weiß-blau. Und selbst mit den Franken läuft’s inzwischen recht harmonisch; aber da sorgt auch der Parteivorsitzende höchstselbst dafür.

Näher am Menschen: Warum Pragmatismus ein gutbürgerliches Programm ist

Man hat der CSU über 75 Jahre hinweg vieles nachgesagt. Mangelnde Grundsatztreue war eher selten darunter. Prinzipientreu zu sein, ohne ideologisch zu werden – das hat der CSU in ihrer Anhängerschaft hohe und höchste Akzeptanz eingebracht. Das konnte in der Praxis aber nur funktionieren, weil Strauß einen klugen Verfahrenshinweis gab: Man solle die Grundsätze immer so hoch hängen, dass man bequem unten durch kann. Bevor die Spürhunde der reinen Lehre hier Opportunismus anschlagen, schnell eine kleine Interpretationshilfe von Horst Seehofer: Politik beginne mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Wir sehen die Welt, wie sie ist und nicht, wie sie sein soll. Wir richten unsere Politik am Menschen aus und nicht den Menschen an unserer Politik. Dieser Pragmatismus ist ein zutiefst bürgerlicher Ansatz und ein ziemlich griffiges Programm für eine Volkspartei, die sich nie als Programmpartei verstanden hat. „Näher am Menschen“ ist im Übrigen auch ein tragfähiges Konzept für das Zeitalter einer geradezu explodierenden Komplexität. Erfolgreiche Politik besteht darin, die Komplexität zu reduzieren, ohne ins Lager der Vereinfacher abzurutschen. Kompliziert denken, einfach reden – das ist bei der CSU seit jeher erste Generalsekretärsmaxime. Einfach denken, kompliziert reden – das überlassen wir dagegen gerne den anderen.

Unter Schwestern: Was sich liebt, das neckt sich

Egal ob die voneinander getrennte Gründung der CDU und CSU eher Anomalie oder List der bundesrepublikanischen Geschichte war – in jedem Fall ist sie ein Glücksfall. Ehrlicherweise fehlt einem aber auch die Vorstellungskraft, wie zwei in ihren Werten gleiche, aber in ihrem Wesen doch so unterschiedliche Kräfte überhaupt in eine Partei passen sollten. Die CSU hat im Temperament – wie die Bayern an sich – vieles im Überschwang und immer auch ein bisschen das Gegenteil davon: Sie kann brutal und sentimental zugleich sein, streitlustig wie ein Löwe und harmoniebedürftig wie ein Kater, so entschlossen in der Sache wie kompromissfähig für die Sache. Aus Unterschiedlichkeit entsteht Reibung, und diese Reibung hat der Union immer genutzt – auch wenn die CDU das manchmal erst im Nachhinein verstanden hat. In den besten Zeiten addieren sich so CDU und CSU; sie werden gewählt, eben weil es auch den anderen gibt. Als CSU wissen wir: Wir sind die kleine Schwester. Aber gerade als kleine Schwester haben wir uns bei den großen Fragen immer stark gemacht – von der Entscheidung zur sozialen Marktwirtschaft und zur Westbindung über die deutsche Einheit bis zur europäischen Integration. Wir geben zu: Wir sind vermutlich zu manchen Zeiten für die große Schwester ziemlich anstrengend, wie sie übrigens auch für uns. Kurioserweise glauben wir uns dann stets beide im Recht – und das meistens auch mit guten Argumenten. Entscheidend ist, dass wir wissen, was wir aneinander haben und aus Unterschiedlichkeit nicht Dauerstreit werden lassen. Ein bisschen Necken, das bleibt freilich erlaubt. Vielleicht ist diese Streitbarkeit sogar die höchste Form der Zuneigung.

Die helle Seite der Macht: Wie man populär bleibt, ohne populistisch zu werden

In Bayern wird gewählt (für manche ist schon das eine überraschende Enthüllung) – und am Ende gewinnt immer die CSU. Letzteres ist argumentativ zwar eine gewisse Engführung, aber in etwa genauso zuverlässig vorhersagbar wie der Ausgang eines Fußballländerspiels zwischen Deutschland und England. Und doch ist es vor allem das Ergebnis harter Arbeit und das Beherzigen der drei Popularitätsregeln: 1. Du musst gewinnen wollen (schon daran hat es zum Beispiel bei der Bayern-SPD immer gefehlt). 2. Du solltest Politik für die Mehrheit und nicht gegen die Mehrheit machen (schwerer als gedacht). 3. Du darfst es Dir in der Mehrheit nicht bequem einrichten (sonst wirst Du vom Wähler erneuert, wie uns Edmund Stoiber immer wieder einschärfte). Heute kommt dazu: Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist härter denn je. Nun war die CSU nie verlegen, Mittel und Wege zu finden, um die Schlagzeilen zu bestimmen. Aber in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie der digitalen Plattformen bevorzugen die Algorithmen die schrillen, skurrilen und polarisierenden Töne. Das benachteiligt die Volksparteien der Mitte und befördert den Aufstieg des Populismus. Wir nehmen diese Herausforderung an. Wir wollen die Hoheit auch am virtuellen Stammtisch. Wir werden die Meinungshöhlen im Internet nicht den Populisten überlassen. Aber wir werden nicht versuchen, die Schreihälse zu übertönen – weil man ein Stinktier auch nicht überstinken kann. Oder anders gesagt: Die CSU steht auf der hellen Seite: Dort, wo der Geist von Optimismus und Lebensfreude weht, an Lösungen gearbeitet und an die Zukunft geglaubt wird. Für die Geschichtsschreiber unter den Lesern: Mögliche Anspielungen auf die Star-Wars-Saga und Markus Söders Begeisterung dafür sind rein zufälliger Natur.

Das Kanzleramt und anderes: Können täten wir’s schon, aber brauchen tun wir’s nicht

Am Ende steht die Frage aller Fragen: Was ist denn die CSU eigentlich? „Nur“ eine bayerische Partei? Oder geht da noch mehr? Seit ihrer Gründung hat sich die CSU nie reduzieren lassen auf den Status einer Regionalpartei, eben weil sie immer mehr war: Eine politische Kraft mit bundespolitischem Anspruch und europäischer Verantwortung. Die entsprechenden Leistungen in der 75-jährigen CSU-Geschichte sind hinreichend dokumentiert durch allzeit entschiedenes Eintreten in Parlamenten und Regierungen, in Koalitionen und in Kommissionen in München, Bonn, Berlin und Brüssel. Den meisten ist die Art und Weise, wie sich die CSU eingebracht hat, so nachhaltig in Erinnerung geblieben, dass sich dann die Frage nach der Übernahme von Spitzenämtern gar nicht mehr gestellt hat. Wir wollen jetzt nicht alte Geschichten aufwärmen, wer vermeintlich unter wem Kanzler war oder was auch immer hätte werden können. Ich würde eher zu einer Formel neigen, die klingt, als wenn sie von Karl Valentin stammt und doch durchaus ernst gemeint ist: Wir wissen, dass wir’s könnten, wenn wir’s müssten – aber brauchen tun wir‘s nicht unbedingt. Damit ist alles gesagt und doch bleibt alles offen. Das ist der Stoff, aus dem Mythen sind.