„Es kann nur einen geben!“ Nachfolgefragen, Wurzelgeflecht, Kampfkandidaturen

Heinrich Oberreuter

Wirklich nur einen? Heute gibt es immer öfter schon zwei. Ob das stets einer klaren Führung nützt, darf bezweifelt werden. Die CSU war ihrer Zeit voraus: 1955 gab es ernsthaft die Idee, nicht nur eine Doppelspitze, sondern ein Führungskollegium zu etablieren  – mit Männern versteht sich, also heute doch wieder hinter der Zeit. Mit der zeitlosen Begründung, es bedürfe klarer Führung, um erkennbar und handlungsfähig zu sein, wurde das Kollegium verworfen. Natürlich sollte diese Idee Kampfkandidaturen verhindern, die unüberbrückbare, geradezu spalterische Konflikte im politischen Selbstverständnis manifestierten, welche die Partei belastet hatten. Umso dringlicher war das Interesse, einen neuen Vorsitzenden durch einen moderaten und fairen Prozess ins Amt zu bringen, und umso überraschender, dass es gelang; weil Fritz Schäffer und Josef Müller ihre unsicheren Chancen sahen und ihre Kandidatur zurückzogen. Der eine, um seine Position in Bonn durch eine Niederlage nicht noch mehr zu gefährden, der andere, um seine Wiederauferstehung in der Partei, die er gegründet hatte, nicht zu konterkarieren.

Zwischen Hanns Seidel und Franz Josef Strauß konnte nun in einer von weltanschaulichen Unvereinbarkeiten und persönlichen Feindseligkeiten freien Atmosphäre gewählt werden. Welch eine Erleichterung! Hanns Seidel brachte sie nach seiner Wahl zum Ausdruck: Der Glanz der Regierungspartei sei zwar erloschen, aber die CSU besitze nun „den Glanz echter Kameradschaft“ (FAZ, 26.1.1955). Und Strauß sieht eine bestandene Kraftprobe mit einem weiterentwickelten politischen Stil: eine Entscheidung in gegenseitigem Respekt „ohne jeden bösen Ton“ (Strauß, S. 548). Für die Konkurrenz um eine entscheidende Machtposition mag das sogar die wegweisendere Vorgabe sein als Kameradschaft. Wie auch immer: Die CSU hatte ihre Lehre aus den selbstgefährdenden Konflikten ihrer Gründerzeit gezogen. Und sie erstrebte auch auf der nächsten Etappe, als sich das Ende der Amtszeit Seidels abzeichnete, im Vorfeld „ohne Streit und einvernehmlich eine Nachfolgeregelung zu finden“ (Strauß,  S. 548).

Dem kommt in der 75jährigen Geschichte keine absolute, aber doch erstaunlich breite Realität zu. Kampfkandidaturen gab es vier, Parteivorsitzende neun. Zum Vergleich: Der SPD im Bund widerfuhr es, während einer Wahlperiode vier Vorsitzende zu verschleißen. Natürlich beruhigte die unangefochtene 27jährige Regentschaft von Franz Josef Strauß diese Front von selbst. Gleichwohl ist die CSU keineswegs frei von Intrigen und Machtkämpfen gewesen, auch nach der grässlichen Gründerzeit: Stoiber z.B. überspielte Alois Glück, und das faszinierende Intrigenspiel zwischen Seehofer und Söder bleibt unauslöschlich im Gedächtnis. Doch wurden solche Situationen, wie auch immer, meist vor dem Wahlakt geklärt. Das „Schauspiel vom Königsmord“ (Deininger, S. 124ff.) kam immer dann zur Aufführung, wenn auch das Amt des Ministerpräsidenten involviert gewesen ist – wie zwischen Waigel und Stoiber oder zwischen dem Duo Beckstein/Huber, als die einen Stoiber stürzten und dieser danach die Chancen der beiden anderen durch Einschränkungen ihrer Entfaltungsfreiheit erfolgreich beschnitt. Der „Königsmord“ an Seehofer ist eine spezielle, auch Prinzen und Prinzessinnen berührende Story, mit unglaublicher – und unglaubwürdiger – Harmonieinszenierung bei der Übergabe des Parteivorsitzes.

Bruderzwist in der Selbstfindung 1946 und 1949

Respektlosigkeit und „böse Töne“ kennzeichnen die Atmosphäre der Kampfabstimmungen zur Gründerzeit. Sie war von lange währendem, bitterem, persönlich-diffamierendem Selbstfindungsstreit geprägt: christlich-überkonfessioneller, liberalkonservativer, föderaler Neuaufbruch oder traditionsbestimmte, katholisch-integralistische, konservative, bayerisch-etatistische Wiederbelebung der früheren BVP als Absage an eine neue, zeitgemäße Sammlungspartei. Es war ein unversöhnlicher Streit um das Wurzelgeflecht einer Partei im Werden – eigentlich ein Streit zweier Wurzelgeflechte, die sich gegenseitig als Unkraut betrachteten, dessen Verbreitung zu bekämpfen war. Fritz Schäffer, keineswegs unschuldig, sah ihn als „eine der beschämendsten und hässlichsten Erinnerungen, die ich habe“ (nach Fait, S. 76). Josef Müller, der „Ochsensepp“ und Gegenspieler, sah ebenso mit gemischten Gefühlen zurück: „Manches Ereignis war voll ernster Tragik, manches von reiner Komik und beinahe alles von unvorstellbarer Primitivität“ (Müller, S. 478). Rücksichtslosigkeit und Durchsetzungswillen charakterisieren seinen rigiden Führungsstil wie aber auch seine Gegner Fritz Schäffer und Alois Hundhammer, die glaubten, schon deswegen demokratisch zu sein, weil sie ebenso rigide Müllers Führung bekämpften. Dahinter stand die Frage nach der bestimmenden Macht: Partei (Müller) oder Fraktion (Hundhammer). Diese Spaltung durchzog Partei, Wählerschaft, Fraktion  – in der Verfassung­gebenden Landesversammlung z.B. beim Projekt eines eigenständigen bayerischen Staatspräsidenten. Persönliche Diffamierungen schreckten auch vor Vorwürfen von Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus (bei Müller, einem Mann des Widerstandes, besonders geschmackvoll) und vor Versuchen wechselseitiger Instrumentalisierung der amerikanischen Militärregierung für Karrierestopps nicht zurück. Alleinregierung oder Koalition mit der SPD und Anspruch auf Kabinettsposten waren weitere Konfliktlinien. In diesem Umfeld besiegte Josef Müller seinen Antipoden Alois Hundhammer am 14.12.1946 nach erregten Diskussionen eindeutig mit 327 zu 29 Stimmen. Doch das berührte diesen nicht, da die Gewichte in der von ihm geführten Fraktion gegensätzlich zugunsten des katholisch-altbayerischen Flügels verteilt waren. Schon eine Woche später wurde Müller sowohl als Ministerpräsident als auch als Minister im Kabinett Ehard blockiert.

Diese Flügel- und Führungskämpfe setzten sich fort, vertieften sich sogar durch Schäffers Wiederkehr und den Neuauftritt der Bayernpartei auf die politische Bühne. Die BP unterhöhlte Einfluss, Mitglied- und Wählerschaft der CSU. Mit der Währungsreform brachen die organisatorischen und finanziellen Ressourcen zusammen – und mit ihnen die Partei Müllers, dessen Vorsitz immer prekärer wurde. Sein Konzept war nun nicht an ihm, sondern „an den bayerischen Verhältnissen gescheitert“ (Mintzel, S. 223). Persönliches Scheitern folgte Schritt für Schritt, worüber die Wiederwahlen 1947 und 1948 (94,3%!) hinwegtäuschen. Hoffnungsträger wurde zunehmend Hans Ehard, der als Talent für beruhigenden Ausgleich zwischen den Flügeln wie für programmatische Konzeption galt. Den Bezirksfürsten kam es zu, Müller seine Ablösung als Ausweg aus der Krise zu erklären. Angesichts dessen, samt einer Intervention Adenauers, war eine Wiederwahl aussichtslos. Gleichwohl stellte sich Müller einer Kampfkandidatur, die er am 29.5.1949 mit 159 Stimmen gegen 396 Ehards verlor. Es war kein echter oder fairer Kampf, sondern ein vorentschiedener. Vor allem einer, der für die Zukunft  – 1955  – Abscheu vor Respekt­losigkeit und „bösen Tönen“ erregte.

Denn auch Ehard ist an diesem Grundkonflikt gescheitert. Sein äußerst positives Ergebnis bei den Landtagswahlen 1954 (plus 10,6% auf 38,0) sah der katholisch-konservative Flügel als Chance für kulturpolitische Kompromisslosigkeit, Bekenntnisschule und konfessionelle Lehrerbildung. Dagegen fand sich die Viererkoalition und die CSU in der Opposition. Ehard wurde Landtagspräsident und forderte zur Wahl eines neuen Vorsitzenden auf.

Kandidaturen gegen den Niedergang: 1955

Hanns Seidel war zum Sprecher der Fraktion und damit zum Oppositionsführer gewählt worden, ergo ein aussichtsreicher Kandidat, zumal er keinem der Flügel angehörte. Es stellten sich drei Herausforderungen: die intransigenten Konservativen einzuhegen, um den volksparteilichen Modernisierern die Stimmführung zu überantworten; Perspektiven für eine Organisationsreform angesichts zerrütteter Strukturen zu eröffnen: „Die Partei war eine Wüste“ (Zimmermann, S. 623); der gewachsenen Bedeutung der Bundespolitik gerecht zu werden. Dazu bedurfte es reformfähiger, sachorientierter Führung. Machtverlust und Marginalisierungsgefahr erzwangen die eingangs dargestellten Verhaltens- und Stiländerungen. Eine neue Generation trat auf den Plan. 1955 ging es um Konsens zur Zukunftsfähigkeit, um funktionale Interessen statt um ideologische und persönliche. Müller und Schäffer erkannten es und gaben auf. Gefragt war ein Diener der Partei und auch ein Brückenbauer. Letzteres war Seidel mehr zuzutrauen als Strauß, der damals schon als der „zukunftsträchtigste Mann der Partei“ galt, vor allem „als ein kraftstrotzender und dennoch gewandter Hüne, dessen unbeirrte Initiative und Beharrlichkeit der CSU zu der gewünschten Schlagkraft verhelfen könnten“ (Arder).

In der nüchternen Konkurrenz ging es um den in der Krise für die Partei wichtigeren Akzent: Bund oder Land. Seidel gewann mit 380 zu 239 Stimmen, wohl von der zeitlos werdenden Erkenntnis getragen, dass Stärke oder Schwäche im Land primär über die Rolle im Bund entscheiden und folglich die Renaissance in München Priorität beanspruchte. Strauß nahm es kooperativ. Seidel beschwor in seiner Dankesrede die Abkehr von der Vergangenheit. Den Weg in die neue Zeit skizzierte er kurz darauf: „Der Landesvorsitzende weiß zu schätzen, wie wertvoll es ist, wenn die CSU – von der unmittelbaren Regierungsarbeit entbunden  – Zeit hat, ihren Parteiapparat zu aktivieren, ihre Organisation zu verbessern, den Schritt von der Wählerpartei zur Mitgliederpartei zu machen und vor allem auf das Grundsätzliche bedacht zu sein“ (Seidel, S. 106): neues Wurzelwerk und Wegweisung für den künftigen Erfolg und Grundlage für die Ära Strauß, die dieser bei Seidels Erschöpfung eigentlich noch gar nicht antreten wollte.

Königsmord und Kontinuität: 2007

Der Ursprung für die Konkurrenz Huber-Seehofer liegt im Moment des größten Triumpfs: dem Gewinn von zwei Dritteln der Landtagssitze 2003. Er verführte Edmund Stoiber zu einer rigiden Kürzungspolitik, die entfremdende Konflikte mit fast allen gesellschaftlichen Kräften, mit Partei und Fraktion provozierte. Vertieft wurde der Vertrauenseinbruch durch Stoibers Wankelmut um seinen Wechsel in die Bundesregierung, verschärft durch den Kampf um seine Nachfolge zwischen Beckstein und Huber. In der Fraktion gab es im November 2005 einen regelrechten Aufstand. Beim 60. Parteijubiläum schlug dem Vorsitzenden Feindseligkeit entgegen. Diese Stimmung wirkte, von Merkel mit Süffisanz begleitet, zudem schwächend in Berlin. Sie mündete in die beispiellose Krise zur Jahreswende 2006/2007. Zum Königsmord zückte Landrätin Pauli nur den Dolch. Stoibers Sturz war Schlusspunkt einer lange schwelenden Erosion. In der Demoskopie klaffte die Schere zwischen dem Vorsitzenden und der Partei. Kurz vor Kommunal- und Landtagswahlen ein riskanter Befund.

Notwendig war die Wiedergewinnung von Vertrauen und Kommunikation, eigentlich keine Kampfkandidatur. Im Unterschied zur Gründerzeit ging es ja nicht um eine wesentliche Richtungsänderung, um einen neuen Wurzelgrund, sondern um einen wesentlich anderen Stil. Beckstein und Huber hatten durch Ämterteilung den Kampf vermieden, den Seehofer mit seiner Kandidatur aufleben ließ. Gewiss hielt er sich für überlegen und begründete seine Herausforderung mit der dringend nötigen Wiederherstellung politischen Gewichts gegenüber einer starken Kanzlerin. Huber begegnete dem mit der Ankündigung verstärkter Präsenz eigenständiger Landesperspektiven in Berlin. Ansonsten stand er für das Ersehnte: Teamgeist und Verlässlichkeit – ein Gegensatz zu Seehofers bekanntem Individualismus. Ohnehin war evident, wie 1955, dass zunächst das Fundament im Land als unabdingbare Voraussetzung für die Rolle in Berlin zu restabilisieren war. Dieser Priorität entsprachen 58,2% für Huber, 39,1% für Seehofer. Pauli (2,5%) spielte nur noch in der Parteitagsdiskussion eine Rolle. Mit kollektiver Vernunft und 91,8% wählten die Delegierten Seehofer zum Stellvertreter, schwächten ihn nicht, sondern machten den Verlierer zugleich zum Gewinner. Sein Fazit: „Man kann auch Erfolg haben, ohne zu siegen.“

Literatur

Albert Arder, Die CSU entschied sich für Seidel (Zeitungsartikel vom 25.1.1955) aus: ACSP, NL Müller Josef: C 32/1.

Roman Deininger, Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei, München 2020.

Barbara Fait, Die Anfänge der CSU 1945-1948, München 1995.

Karl-Ulrich Gelberg, Hans Ehard, Düsseldorf 1992.

Hans Ferdinand Groß, Hanns Seidel. Eine politische Biographie, München 1992.

Friedrich Hermann Hettler, Josef Müller („Ochsensepp“). Mann des Widerstands und erster CSU-Vorsitzender, München 1995.

Alf Mintzel, Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei, Opladen, 2. Aufl. 1978.

Josef Müller, „Wer eine Chronik schreibt, muß die Gegenwart wichtig nehmen“, in: Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU, München 1995, S. 477-492.

Heinrich Oberreuter, Stoibers Sturz. Ein Beispiel für die Selbstgefährdung politischer Macht, in: Zeitschrift für Parlaments­fragen 1/2008, S. 112-118.

Hanns Seidel, Weltanschauung und Politik, München 1960.

Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989.

Interview mit Bundesminister a.D. Dr. Friedrich Zimmermann, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU, Grünwald 1995, S. 619-632.