Als sich auf dem Trümmerfeld nationalsozialistischer Unrechtsherrschaft konservative, nationale, liberale und soziale Kräfte zusammenfanden, um 1945 eine Volkspartei auf breiter Basis zu gründen, gaben sie ihren Überlegungen mit einer 10-Punkte-Erklärung zu den „Leitsternen ihres Handelns“ eine erste gemeinsame Richtung. Das Neuartige dieser „Nova am Parteienhimmel“ war ihr überkonfessioneller Ansatz. Ihm verdankt sich das U im Namen der CSU. Dass eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft nur aus dem christlichen Glauben heraus möglich sein könne, war ebenfalls Konsens und fand seinen deutlichen Niederschlag im ersten offiziellen Grundsatzprogramm von 1946, dessen vier Seiten unter Federführung des ersten Parteivorsitzenden, Josef Müller, entstanden waren. Beide Grundsätze bewahrten die CSU in ihrem ersten Jahrzehnt dennoch nicht vor erbitterten Führungs- und Flügelkämpfen, in denen der streng katholisch-klerikal ausgerichtete Fraktionsvorsitzende Alois Hundhammer als Müllers Gegenspieler agierte. Dass sich letztendlich dessen überkonfessionell-liberaler Flügel im parteiinternen Wettstreit durchsetzte, eröffnete der CSU auf Jahrzehnte hinaus völlig neue Möglichkeiten der Wähleransprache. Die „klerikale“ schwarze Farbe ist ihr dennoch bis heute geblieben.
Der zunächst durch einen starken Zentralapparat organisierten Partei wurde mit der Währungsreform von 1948 das Geld knapp, diesen zentralistischen Kurs fortzusetzen. Aber erst unter ihrem Parteivorsitzenden Hanns Seidel und seinem Generalsekretär Fritz Zimmermann gelang ihr Mitte der 1950er-Jahre in der Opposition eine inhaltliche und strategische Neuausrichtung, indem sie zum einen ein Netz von 42 hauptamtlich besetzten Bundeswahlkreisgeschäftsstellen aufbaute, das in seiner Dichte bis heute einmalig in der deutschen Parteienlandschaft ist. Zum anderen orchestrierte Seidel auch die Entstehung des zweiten Grundsatzprogramms von 1957. Mit diesen zwölf Seiten schaffte die CSU den Balanceakt zwischen einer noch immer starken Verankerung ihrer Politik auf christlicher Grundlage und einer auch für kirchenfernere Menschen anschlussfähigen „liberalen“ Zukunftsausrichtung.
Diese Hinwendung zum Pragmatismus setzte das dritte Grundsatzprogramm von 1968 unter Federführung des Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß konsequent fort, um bei aller Treue zu den Wurzeln in einer sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft auch den Anspruch, Volkspartei zu sein, nicht zu gefährden. Als neuer Akzent und Selbstvergewisserung in Zeiten der Großen Koalition in Berlin findet sich in diesen 16 Seiten die Selbstbezeichnung der CSU als „konservative Kraft“, die Strauß allerdings äußerst dynamisch interpretierte: „Wir sollen […] ‚konservativ‘ so denken, formulieren und anwenden, daß konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, daß konservativ heißt, das, was am überkommenen Erbe erhaltenswert und gut ist, zu erhalten, daß konservativ aber auch heißt, ständig neue Werte zu schaffen, die der Konservierung wert sind“. Auch den Weg zu einer professionell organisierten Volkspartei setzte Strauß weiter fort, indem er etwa die Landesleitung zu einem eigenen Machtzentrum ausbaute.
Die wachsenden Herausforderungen an Wirtschaft und Gesellschaft, die Entwicklung des Sozialstaats und ihre Rolle in der Opposition im Bundestag seit 1969 führten in der CSU zu neuen Grundsatzdebatten – und einem vierten Grundsatzprogramm. Dessen 74 Seiten wurden federführend vom seinerzeitigen Vorsitzenden der Grundsatzkommission, Theo Waigel, erarbeitet und 1976 verabschiedet. Neben Bewährtem enthält es völlig neue Themen wie Umweltschutz, Migration, Informationsfreiheit oder Raumordnungspolitik. Neu ist auch das ausdrückliche Zugeständnis, dass die Politik einer C-Partei ohne Abstriche auch von Nichtchristen gestaltet werden kann. Die CSU wurde fortan eine Union von Christen und Nichtchristen, die gemeinsame politische Vorstellungen verbindet.
Als Strauß-Nachfolger kündigte Waigel unmittelbar nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden 1988 die „Fortschreibung“ des bestehenden Grundsatzprogramms an und benannte Edmund Stoiber zum Leiter der Grundsatzkommission. Der frisch gekürte bayerische Innenminister, der sich vermutlich höhere Ämter erhofft hatte, sollte so stärker in die Parteiarbeit integriert werden. Wie sein Vorgänger erkannte und nutzte er das machtpolitische Potenzial dieser Position und schwang sich in Zeiten einer gefährlichen Sandwichposition der CSU zwischen einer sich nach links öffnenden CDU und erstarkenden Republikanern am rechten Rand zum CSU-Chefprogrammatiker auf. Über einen breit angelegten Grundsatzprozess gewann er bislang fehlenden Rückhalt in der Partei, was ihm letztlich 1993 das Amt des Ministerpräsidenten und der CSU ihr fünftes Grundsatzprogramm einbrachte. Letzteres fiel mit 130 Seiten nochmals umfangreicher aus. Breit untermauert wird darin der historische Anspruch der CSU, Volkspartei zu sein. Daneben machen aber auch Themen wie Aids, die Abschaffung des Numerus Clausus oder die Frage nach der Rolle des wiedervereinigten Deutschlands in der Welt den Text zu einem Spiegel zentraler Diskussionen jener Zeit.
Ein Jahrzehnt später brachte Landtagspräsident Alois Glück unter dem Eindruck intensiver gesellschaftspolitischer Debatten zur Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder Integration von Muslimen einen neuen Stil der Nachdenklichkeit in die Grundsatzdiskussionen der Partei. Unter seiner Federführung wurde das mit über 180 Seiten bislang umfangreichste sechste Grundsatzprogramm erarbeitet und 2007 verabschiedet. Intensiver als seine Vorgänger widmete es sich wieder dem christlichen Markenkern der Partei und der Gestaltung einer Politik aus christlicher Verantwortung. Aber auch Heimatliebe, Nachhaltigkeit, Sterbehilfe, Verbraucherschutz, Gentechnik oder Tierschutz wurden als neue Herausforderungen aufgegriffen.
Das vorerst letzte Programm entstand unter Leitung von Markus Blume, der sich als Sprecher der „Jungen Gruppe“ einen Namen gemacht hatte und für eine junge und moderne CSU stand. „Worauf es in Zukunft ankommt“ wurde zum strukturierenden Prinzip des mit 44 Seiten deutlich verschlankten siebten Grundsatzprogramms von 2016. In Zeiten nachlassender Bindungskräfte der traditionellen Parteien präsentierte sich die CSU noch einmal als wahre Volkspartei, die vermeintliche Gegensätze in sich zu vereinen vermag: Heimat und Weltoffenheit, Tradition und Moderne, Fortschritt und Nachhaltigkeit. Die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften steht neben der traditionellen Ehe, aber auch das ordnungspolitische Profil erfuhr noch einmal eine deutliche Schärfung. Auch Blume hat sich mit der Kommission starken Rückhalt in der Partei erarbeitet, der ihm 2018 das Amt des Generalsekretärs einbrachte.
Überblickt man die Grundsatzdokumente der vergangenen 75 Jahre, kristallisieren sich zum einen fünf konstante Säulen christlich-sozialer Programmatik heraus: Die CSU ist Partei auf christlichem Wertefundament, Partei der „kleinen Leute“ und des Kapitals, Partei des ländlichen Raumes und der Städte, Partei der Freiheit und des Staates sowie Partei des Zentrums und der Peripherie. Zum andern enthalten sie eine Vielzahl bemerkenswerter Variablen, die die Grundsatzprogramme zu einer Fundgrube der Zeit- und Parteigeschichte machen. Erst zusammengenommen ergeben beide Facetten die Doppelhelix, die die DNA der CSU ausmacht: Eine Volkspartei, die bis heute schwarz und konservativ ist, zugleich aber an der Spitze des Fortschritts marschiert.
Alle Grundsatzdokumente können abgerufen werden unter https://www.hss.de/archiv/parteiprogramme/die-grundsatzprogramme-der-csu/.
Andreas Kießling, Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004.
Hans Maier, Die Union – eine Nova am Parteienhimmel, in: Hans Zehetmair (Hrsg.), Politik aus christlicher Verantwortung, Wiesbaden 2007, S. 73-81.
Susanne Schäfer, Konstanz und Wandel: Die CSU-Programme im dokumentarischen Vergleich, in: Gerhard Hopp, Martin Sebaldt, Benjamin Zeitler (Hrsg.), Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010, S. 173-193.
Michael Weigl, Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden 2013.