Wer vertritt das Volk? Die Entwicklung der CSU als unechte Regionalpartei

Gerhard Hirscher

Das Wahlgebiet der CSU ist ausschließlich der Freistaat Bayern. Dies galt für ihre gesamte Geschichte seit 1946. Mit ihrer Gründung als eigenständiger Partei als Teil des christlich-demokratischen Lagers wurde aber auch eine Arbeitsteilung festgelegt, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hat: Die CSU kandidiert in Bayern, die CDU im restlichen Deutschland. Auch wenn die Ausdehnung des Wahlgebietes nach der Wiedervereinigung 1989/90 andere Möglichkeiten eröffnet hätten und trotz sporadisch aufflammender Debatten um eine bundesweite Ausdehnung der CSU, vor allem im Umfeld des sogenannten „Kreuther Trennungsbeschlusses“ im November 1976, ist dies bislang so geblieben. Auch zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts scheint ein Beibehalten dieses Status quo wahrscheinlich zu sein. Die CSU ist also eine Regional­partei, weil sie nur in Bayern kandidiert. Diese Arbeitsteilung mit der CDU und ihr allgemeiner politischer Anspruch erlauben es aber, sie als unechte Regionalpartei zu bezeichnen.

Eine unechte Regionalpartei wäre nach dieser Definition eine Partei, die zwar nur in einer definierbaren Region kandidiert, die aber aufgrund eines Konkurrenzausschlusses einem anderen politischen Wettbewerb wie im Gesamtstaat unterliegt. Ein Gebietskartell minimiert die Zahl der Wettbewerber. Bei der CSU war und ist dies der Fall: Als Teil der Union bildet sie zwar mit der CDU im Deutschen Bundestag eine Fraktions­gemeinschaft und tritt auf der zentralen Ebene als einheitlicher Akteur auf, indem sie als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag auch nur zusammen mit der CDU Regierungen bildet. Für das Wahlgebiet hat sie allerdings mit der CDU eine dauerhafte Regelung vereinbart, die vorsieht, dass die CSU nur in Bayern und die CDU ausschließlich im Rest Deutschlands kandidiert. CDU und CSU treten bei keiner Wahl gegeneinander an. Insofern ist die CSU Regionalpartei, aber als Teil der Gesamt-Union auch eine bundespolitische Kraft.



Die langjährige Stärke der CSU

Aus dieser Konstellation heraus hat die CSU immer das Selbstverständnis formuliert, eine regionale Partei nicht nur mit bayerischem, sondern auch mit bundes- und europaweitem Anspruch zu sein. Da nur Bayern ihre Machtbasis sein konnte, kam dem Wahlverhalten im Freistaat stets großes Augenmerk zu. Dieser Anspruch bedeutete aber immer auch einen großen Druck für die Partei: Nur als starke Partei, die in Bayern die Regierungen anführt, konnte sie auf Dauer ihr Bestreben begründen, auch die Politik im Bund und in Europa entscheidend mitbestimmen zu können. Daher war es für die Geschichte der CSU von zentraler Bedeutung, zuallererst bei den Landtagswahlen überzeugend abzuschneiden. Diese Erfolge beinhalteten nicht nur – mit Ausnahme der Jahre 1954-1957 – die führende Rolle in der Staatsregierung oder zumeist sogar die Rolle als alleinige Regierungspartei. Das System des deutschen Föderalismus sorgte auch dafür, dass die Staatsregierung und damit auch die CSU über den Bundesrat mitwirken und dort eigenständige Akzente setzen konnte. Die spezielle Konstruktion der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag betonte die Sonderrolle und war ein zusätzliches Instrument der Durchsetzung der Interessen der CSU. In den Regierungszeiten war die CSU quasi als zentrale bayerische Interessenvertretung direkt im Bundeskabinett vertreten. Außerdem war es insbesondere in den Zeiten, in denen die Union im Bund in Opposition war (1969-1982 und 1998-2005) von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die CSU, dass sie gleichzeitig in München alleinige Regierungspartei war. Diese Machtbasis in Bayern bildete immer die Grundlage für alle weitergehenden Ansprüche. Die Wahlerfolge in Bayern waren deren Voraussetzung.

Zweifelsohne war die CSU von Anfang an eine erfolgreiche Neugründung. In den frühen Jahren der Parteigeschichte gab es bei den Landtagswahlen jedoch heftige Ausschläge und es sollte einige Zeit dauern, bis sich die Ergebnisse konsolidierten und sich die CSU als die in Bayern führende Partei etabliert hatte. Nach dem Gewinn von 52,3% der Stimmen bei den ersten Landtagswahlen in Bayern 1946 konnte die CSU bei der Bundestagswahl 1949 nur noch 29,2% und bei der Landtagswahl 1950 noch 27,4% der Stimmen in Bayern auf sich vereinen – größtenteils Verluste, die wohl die Bayernpartei für sich buchen konnte. Daneben kämpften, wie in anderen Teilen Deutschlands auch und heute erneut, noch andere kleine Parteien um das bürgerlich-konservative oder liberale Wählerpotenzial. Die Landtagswahl von 1954 brachte einen weiteren Rückschlag für die Partei. Zwar gewann die CSU stark hinzu und verbesserte sich auf 38,4%. Dennoch wurde bis 1957 eine breite Koalition aus SPD, FDP, GB/BHE und BP gebildet, die „Viererkoalition“ – ein Bündnis äußerst heterogener Partner mit dem einzigen gemeinsamen Nenner, die CSU von der Regierung abzuhalten. Damit war die erste und bislang einzige Regierungskoalition in Bayern ohne Beteiligung der CSU zustande gekommen. Es sollte bis zu den Landtagswahlen 1970 dauern, bis die CSU das Resultat von 1946 erreichte und übertraf, während sie bei den Bundestagswahlen schon im Jahr 1957 ein besseres Ergebnis als bei der ersten Landtagswahl erzielte. Voraussetzung hierfür war nicht nur eine Beendigung der innerparteilichen Kämpfe, sondern auch eine allmähliche Bereinigung und Konzentration des Parteiensystems. Die CSU hat diesen Prozess im Laufe der Zeit immer stärker mitgesteuert und ging daher als Gewinner aus dieser Entwicklung hervor, da sie sich vor allem als führende Kraft des modernen Bayern präsentierte, die den Wandel von einem armen Agrar- zu einem modernen Industrie- und später High-Tech-Land gestaltete.

Wohin geht die CSU?

Nach dem Verlust der Regierungsmehrheit 1954 begann die Diskussion um innerparteiliche Reformen. Der Weg von der Honoratiorenpartei mit wenigen Mitgliedern zu einer mitgliederstarken Partei mit Massenbasis wurde energisch vorangetrieben. Allmählich zahlten sich die strukturellen Reformen auch bei den Landtagswahlen immer stärker aus. Bei der Landtagswahl 1970 übersprang die CSU mit 56,4% erstmals seit 1946 auch in Bayern klar die 50%-Marke. Auf diesem Niveau blieb die CSU, bis 1988 unter den Ministerpräsidenten Alfons Goppel und Franz Josef Strauß, danach unter Max Streibl und Edmund Stoiber, bis zur Landtagswahl 2008. Die Ära Stoiber war da bereits beendet, eine neue Doppelspitze mit Günther Beckstein und Erwin Huber stellte sich zur Wahl. Das Ergebnis der Landtagswahl vom 28. September 2008 war für die CSU eine Enttäuschung in unerwartetem Ausmaß: Sie holte nur noch einen Anteil von 43,4% – der schlechteste Wert seit 1954. Zwar blieb die CSU in allen Bevölkerungsgruppen relativ die stärkste Partei, aber die deutliche Dominanz, die bei der Wahl 2003 (wieder)errungen worden war, war verschwunden. Über 50% schnitt die CSU nur noch bei den Rentnern und den Landwirten ab, dort allerdings mit starken Verlusten. Damit war das Ende der kurzzeitigen neuen Doppelspitze eingeläutet und der Weg für die Übernahme des Vorsitzes der Partei wie des Amts des Minister­präsidenten durch den seinerzeit laut Umfrage beliebtesten CSU-Politiker, Horst Seehofer, geebnet. Die Zeit der Alleinregierung der CSU war beendet und sie musste, erstmals seit 1957, eine Koalition mit der FDP eingehen.

Bei der Landtagswahl 2013 konnte die CSU mit einem Anteil von 47,7% noch einmal die absolute Mehrheit der Mandate holen. Diese ging bei der letzten Landtagswahl 2018 wieder verloren, so dass die CSU (bei einem Anteil von 37,2%) eine Koalitionsregierung mit den Freien Wählern einging. Erstmals wurden die Grünen zweitstärkste Partei im Landtag, während die SPD auf den vierten Platz zurückfiel und die AfD erstmals in den Landtag einzog. Das bayerische Parteiensystem hat sich grundlegend verändert.

Literatur

Gerhard Hirscher, Regionalparteien in Deutschland: Rahmenbedingungen, historische und aktuelle Beispiele, in: Petra Zimmermann-Steinhart (Hrsg.), Regionale Wege in Europa. Föderalismus – Devolution – Dezentralisierung, München 2006, S. 37-57.

Ders., Landespartei und Mehrebenenpolitik – Anmerkungen zur Rolle der CSU, in: Julia Oberhofer/Roland Sturm (Hrsg.), Koalitionsregierungen in den Ländern und Parteienwettbewerb, München 2010, S. 277-289.

Thomas Schlemmer, Die aufsässige Schwester. Forschungen und Quellen zur Geschichte der Christlich-Sozialen Union 1945-1976, in: Historisch-Politische Mitteilungen 6/1999, S. 287-324.

Andreas Kießling, Das lange Ende der Ära Stoiber. Die CSU nach der Bundestagswahl 2005, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2008, S. 83-100.

Rainer-Olaf Schultze, Die bayerische Landtagswahl vom 28. September 2008: Betriebsunfall oder Ende eines Mythos?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009) S. 34-55.

Infratest dimap Wahlreport, Landtagswahl Bayern 28. September 2008, Berlin 2008.