DIE MARPLES

von Ingrid Frömming, Maria Rüchardt, Eleonore Zwißler

Wir vier aus dem Landkreis Starnberg, Mathilde, Ingrid, Lorle, Maria – alt, neugierig, unternehmungslustig, und eben darum „die Marples“ genannt. Gemeinsam wollten wir noch ein bisschen die Welt erkunden. Das Besondere an unseren Treffen, ob zu Hause oder auf Reisen, waren unsere lebendigen Diskussionen. Kein Familientratsch, kein Krankheitsgejammer, sondern das, was die Welt gerade bewegte, war für uns brennend interessant. Die Politik in Bayern und natürlich auch die Politiker, Kirchen und Religion, Deutschland und Europa, Neuzeit und Historie – wir diskutierten über Gott und die Welt. Und es war oft Mathilde, die uns andere mit zwei, drei ruhigen Sätzen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Das Wunderbare an unserem Beisammensein war, dass trotz unterschiedlichster Meinungen, trotz heftigem Disput unsere Freundschaft nie darunter gelitten hat – im Gegenteil, wir bedauerten immer beim Abschied, dass es wieder mal viel zu kurz war, und meinten, dass wir uns öfter treffen sollten.

In den Hotels und Lodges in Südafrika war es üblich, dass das schwarze Personal nach dem Dinner die Gäste voll Stolz mit afrikanischen Liedern erfreute. Das Konzert endete fast immer mit der Nationalhymne. Eines Tages beschlossen wir vier, doch auch mal zu singen, und zwar die Bayernhymne. So erklang in Zululand, neben blühenden Jakarandabäumen auf reetgedeckter Terrasse „Gott mit dir, du Land der Bayern“. Mathilde war die einzige, die alle Verse auswendig konnte, wir anderen sangen dreimal die erste Strophe. Die Zuhörer haben es hoffentlich gar nicht
bemerkt und sich über uns gefreut. Auf einer unserer Russlandreisen, der Flussschifffahrt auf dem Goldenen Ring, war es schrecklich heiß. Es herrschte ungewöhnliche Hitze, niedriger Wasserstand, Inseln im Fluss wurden kunstvoll umschifft. Bis zum Bauch standen Kühe im Wasser der Oka. Warum? Damit die Milch nicht sauer wurde! Unser kleines Schiff war dafür nicht gerüstet. Wir öffneten alle Luken in unseren Kabinen, um durch den Luftzug ein bisschen Kühlung zu erreichen. Als wir eines Spätnachmittags todmüde und erschöpft von einem Ausflug zurückkamen, fanden wir unsere Kabinen über und über mit weißen Schmetterlingen bedeckt. Sie hatten ihre Hochzeitsreise nicht überlebt. Der Boden, das Bett, Tisch und Stuhl – es gab keinen Fleck ohne Schmetterlinge. Als wir unsere eigenen Kabinen einigermaßen von ihnen befreit hatten, schauten wir hilfsbereit noch zu Mathilde und staunten nicht schlecht: Sie hatte sich an der Invasion nicht gestört, lag auf dem Bett zwischen all den geflügelten stillen Insekten und schlief tief und fest.
Gelegentlich waren unsere Diskussionen aber auch ein Härtetest für die übrigen Gäste beziehungsweise Mitreisenden. Denn bekannterweise steigt mit der Intensität der Unterhaltung auch deren Lautstärke. Aber nur selten trafen uns vorwurfsvolle Blicke. In der Regel empfanden unsere Nachbarn unsere Gespräche als höchst aufschlussreich und gaben uns dies durch ein freundliches Lächeln oder eine zustimmende Bemerkung bekannt. Aus unserem Viererkreis wurde dann manchmal eine größere Runde, und auf den Schiffsreisen in Russland trug ein Gläschen Wodka, über alle nationalen Unterschiede und Sprachbarrieren hinweg, zur Verbrüderung bei. Und so waren unsere gemeinsamen Reisen auch dadurch unglaublich lebendig, schön und interessant und ein Gewinn für uns alle. Unsere allererste gemeinsame Reise führte uns nach Südafrika. Mathilde war als Gartenliebhaberin und Orchideenzüchterin besonders an den exotischen Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung interessiert. In einem botanischen Park an der Garden Route mahnte das Schild an einem Baum: „Silence PLEASE, trees growing“. Wir freuten uns darüber, genossen die floristische Pracht – schweigend? Wir wissen es nicht mehr.

Auf all unseren Russlandreisen begleiteten uns ausgebildete Führerinnen, die sehr gut Deutsch sprachen und uns mit Land und Leuten bekannt machten. So wurden wir in Nishni Nowgorod in die karge Exilwohnung des weltberühmten Atomphysikers und Dissidenten Andrej Sakharow geführt. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen über Krieg und Frieden in der Welt. Wir wanderten zu Klosteranlagen, mit Staatsmitteln schön renoviert: Erneuerung alter Glaubenszeugnisse oder Hausmacht der Präsidenten von heute? Die Führerin sagte: „Hier gibt es drei Klosters, eines für Frauen und zwei für Menschen. Wir waren irritiert. Nach diesem Ausflug verbrachten wir wieder den Abend an Deck und stellten fest, dass wir zwar Frauen, zugleich aber auch Menschen sind. Ein Thema, wie für Mathilde gemacht. In Paris, letzter Nachmittag – gegen Abend sollten wir wieder nach Hause fliegen. Auf dem Programm stand noch der Louvre. Wir hatten schon mehrere Etagen erklommen, viele Gemälde besichtigt, als plötzlich vier schwarzgekleidete Wächter durch unseren Saal rannten. Nach ihnen schlossen sich die hohen Türen und wir waren eingesperrt. Kein Mensch sagte uns, warum und wie lange unsere Gefangenschaft wohl dauern würde. Das war nicht schlimm, wir waren ja mit den schönen Bildern in guter Gesellschaft, aber wir mussten zum Flugplatz. Wieder war es Mathilde, die gar nichts erschüttern konnte, wir konnten eben nur warten. Irgendwann gingen die Türen wieder auf, und wir haben auch unser Flugzeug noch erreicht.

Es gab durchaus öfters Situationen, bei denen wir Mühe hatten, rechtzeitig Schiff, Bahn, oder Bus zu erreichen. Zeit-Killer waren Flohmärkte. Termine und Örtlichkeiten großer Flohmärkte waren Mathilde immer geläufig. So fuhr sie um fünf Uhr früh mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch ganz London zum Flohmarkt am Rande der Stadt. Mit sicherem Instinkt fand sie aber auch winzige Straßenmärkte, wie das Foto in einem kleinen Ort an der Wolga zeigt. Mathildes Wissen über kulturelle und religiöse Gepflogenheiten in den jeweiligen Ländern veranlasste sie, gezielt und sorgfältig aus dem angebotenen Durcheinander auszuwählen. Das dauerte! Doch nahezu auf jedem Markt entdeckte sie Dinge, die sie für ihre Sammlungen brauchen konnte. Immer schleppte Mathilde ihre große dehnbare Reisetasche aus Stoff mit sich. Darin konnte sie Krippenfiguren und kunstvolle Ostereier, die sie bei jeder Reise suchte und fand, sicher heimtransportieren. Mit Kleidungsstücken aller Art umwickelt, waren sie gut verstaut. Der Zoll hatte nichts dagegen, da es sich nicht um antiquarische Raritäten handelte, sondern um landestypische religiöse Volkskunst. Die Zollbeamten schmunzelten nur.

Dies sind nur ein paar von vielen, gemeinsamen Erlebnissen, die wir diskutiert und ausgewählt haben. Dabei haben wir an Mathilde gedacht, eine liebenswerte, blitzgescheite, mutige, aber auch zurückhaltende Frau, mit der wir viele Stunden verleben durften und die wir dankbar und in großer Freundschaft in Erinnerung behalten werden.