Hanns Seidel - Ein Lebensbild

von Stephan Deutinger

1. Herkunft und Bildungsgang

Die Karriere als Politiker war Seidel alles andere als vorgezeichnet. Er verdankte sie weder Herkunft noch begünstigenden äußeren Umständen. Ganz im Gegenteil. Seidels Kindheit und Jugend spielte sich vor bedrückenden materiellen Verhältnissen ab. Am 12. Oktober 1901 geboren und auf den Namen Franz Wendelin getauft, bald aber stets „Hanns“ gerufen, verlor er seinen Vater, den kaufmännischen Angestellten Johann Seidel, bereits im Alter von sieben Jahren; seine Mutter Christine sah sich mit noch fünf weiteren unversorgten Kindern zurückgelassen. Schon von daher verbietet sich also die Vorstellung eines ländlichen Idylls bei der Nennung von Seidels Geburtsgemeinde, dem 3.000-Seelen-Dorf Schweinheim, im unteren Maintal hart am Aschaffenburger Stadtrand vor den Abhängen des Spessarts gelegen. Seidels Heimatort erlebte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg grundlegende Umbrüche. Die Lage im städtischen Einzugsbereich unmittelbar vor den Toren Aschaffenburgs, wo Gewerbe und Fabriken stark expandierten, brachte zahlreiche rasche Veränderungen mit sich. Die Einwohnerzahl hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu verdoppelt. Die dörfliche Infrastruktur konnte mit dieser Entwicklung kaum Schritt halten. 1894/95 brach man die alte barocke Kirche ab und errichtete an ihrer Stelle ein größeres Gotteshaus im neugotischen Stil. 1901 musste der Friedhof erweitert werden. 1903/04 wurde ein neues Schulhaus mit vier Klassenzimmern, 1907 eine Mädchenschule errichtet. Im gleichen Jahr erhielt der Ort Anschluss an die zentrale Wasserversorgung. Das Dorf wandelte sich zunehmend zur Arbeiterwohnsiedlung, wozu auch beitrug, dass sich in Schweinheim selbst industrielle Großbetriebe ansiedelten. 1939 – mittlerweile war die 5.000-Einwohner-Grenze erreicht – wurde Schweinheim nach Aschaffenburg eingemeindet.

Die Familie Seidel war katholisch wie die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Raum Aschaffenburg – langfristig wirksames Erbe seiner historischen Zugehörigkeit zum Mainzer Erzstift, aus dem es 1814 an das Königreich Bayern übergegangen war. So verbrachte Seidel seine ersten Gymnasialjahre im Zuge eines im katholischen Milieu typischen Bildungsganges von 1910 bis 1914 zunächst – räumlich entfernt vom heimatlichen Umfeld – in klösterlicher Obhut. In St. Ludwig, einem einsam unmittelbar am Main gelegenen ehemaligen Heilbad nördlich von Volkach, das mit Kirche und Nebengebäuden zu einer ansehnlichen Klosteranlage erweitert worden war, betrieben die Missionsbenediktiner seit 1901 ein Studienseminar; von dort aus wurde 1913/14 das nahe gelegene Kloster Münsterschwarzach wiederbesiedelt. 1914 wechselte Seidel an das Königliche Humanistische Gymnasium in Aschaffenburg (heute Kronberg-Gymnasium), eine altehrwürdige Lehranstalt in der Tradition einer seit 1620 von den Jesuiten geführten höheren Schule. Das barocke Portal in der Pfaffengasse mit dem Wappen des Mainzer Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn hatte zwei Generationen zuvor auch ein anderer täglich durchschritten, der es in München zu großem Ansehen brachte: der Nationalökonom und Sozialpolitiker Lujo Brentano (1844–1931), zuletzt Professor an der Münchner Universität, wurde im gleichen Jahr emeritiert, in dem Seidel das Aschaffenburger Gymnasium bezog. 1921 legte Seidel dort das Abitur ab. Seiner Schule blieb Seidel stets verbunden. Noch als Minister im Jahr 1950 übernahm er das Prorektorat über das Studiengenossenfest „seines“ Gymnasiums.

Versucht man, die entscheidenden Prägungen aus Seidels Kindheit und Jugend zusammenzufassen, die sein späteres Denken und Handeln zu leiten scheinen, so dürfen sicher nicht fehlen die klare weltanschauliche Bindung durch das katholische Bekenntnis bei gleichzeitiger geographisch-sozialer Orientierung über die Landesgrenzen hinaus an den Rhein und ins Hessische hinüber als historisch-politische Vorgaben des Heimatraumes, dann aus eigenem Erleben heraus das Verständnis für soziale Not und Probleme der Arbeiterschaft, gekoppelt mit der Einsicht in die Ambivalenzen von Industrialisierung und Modernisierung, und schließlich und nicht zuletzt der tief aufgenommene humanistische Bildungsgedanke mit seiner Idee der selbstverantwortlichen, umfassenden Persönlichkeitsformung durch fortwährendes eigenes Streben.

 

2. Studium und Etablierung als Rechtsanwalt

Die Studienzeit Seidels nahm die Jahre von 1921 bis 1925 ein. Er studierte vorwiegend in Würzburg, mit jeweils einem Semester in Freiburg und Jena. Die äußeren Bedingungen für das Studium waren dabei alles andere als günstig. Bedingt durch die familiären Verhältnisse musste Seidel seinen Unterhalt weitgehend selbst bestreiten, als Nachhilfelehrer, Zigarettenverkäufer und in den Semesterferien sogar als Hauer in einem westfälischen Bergwerk. Auch an der Universität Würzburg selbst waren die Verhältnisse in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg schwierig. Die bekannte, aber an sich kleine Universität war stark überlaufen, da eine ganze Studentengeneration aus dem Krieg an die Universität zurückkehrte, um ihre unterbrochenen Studien abzuschließen. Im Sommersemester 1921 kulminierte die Studentenzahl in Würzburg bei 3.787 Immatrikulierten, im Vergleich zum Vorkriegsstand bedeutete dies mehr als eine Verdopplung. Gegenüber den gereiften Kriegsteilnehmern befanden sich die jüngeren Nachrücker in der Studentenschaft in psychologisch schwieriger Situation, da die allgemeine Berufsangst zu Polarisierungen zwischen diesen Gruppen führte. Die große Studentenzahl hatte auch eine schwindende Disziplin am Studienort zur Folge; Sachbeschädigungen und Diebstähle häuften sich jetzt auch in der Universität.

Seidel widmete sich dem gleichen Fach wie die Mehrzahl seiner Kommilitonen. Der Ansturm der Studenten galt in jenen Jahren in erster Linie der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät, an der damals beinahe die Hälfte von ihnen studierte. Attraktive Hochschullehrerpersönlichkeiten werden zu dieser Entwicklung nicht wenig beigetragen haben. Die Fakultät zählte zu den ihren beispielsweise den Staatsrechtler Robert Piloty (1863–1926), der die bayerische Verfassung von 1919 maßgeblich mitformuliert hatte und eine wichtige Rolle im Würzburger Gesellschaftsleben spielte. Die Würzburger Juristen zeigten insgesamt hohes Interesse für politische Fragen. Das Angebot an juristischen Lehrveranstaltungen spiegelt denn auch eine starke Aufgeschlossenheit gegenüber den Gegenwartsfragen wider. Aktuelle staats- und völkerrechtliche Probleme, wie etwa der Versailler Vertrag, wurden durchaus thematisiert.

Das Korporationswesen in Würzburg stand infolge der großen Studentenzahlen in reicher Blüte. Seidel schloss sich der katholischen Studentenverbindung Normannia an, die seit 1920 dem Kartellverband der katholischen Studentenvereine Deutschlands (KV) angehörte. Der 1876 gegründeten, nichtfarbentragenden Gemeinschaft mit dem Wahlspruch „Deo et amico!“ strömten vor dem Ersten Weltkrieg vor allem Theologiestudenten aus Ober- und Unterfranken, aus der Pfalz und aus Baden zu. In den 1920er Jahren entwickelte sich die Normannia zur größten Verbindung Würzburgs; bedeutende Politiker und Kirchenmänner gehörten ihr an, so die späteren Kardinäle Michael Faulhaber und Julius Döpfner.

Im November 1925 legte Seidel in Würzburg das erste juristische Staatsexamen ab. Nach seiner Referendarzeit in Aschaffenburg bestand er drei Jahre später in Würzburg die Große Staatsprüfung, das „Staatsexamen für den höheren Justiz- und Verwaltungsdienst“. Im April 1929 erhielt er die Zulassung als Rechtsanwalt am Landgericht Aschaffenburg. Im gleichen Jahr wurde er von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Würzburg mit einer zeittypisch schmalen, beim Strafrechtslehrer Professor Friedrich Oetker angefertigten Dissertation über „Die Bedeutung der Ausschließung des Richters in der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ promoviert. Mit dem Aufbau einer Anwaltskanzlei in Aschaffenburg hatte sich Seidel durch eigene Anstrengung und Arbeit bis in die oberste Schicht der städtischen Gesellschaft emporgearbeitet. In dieses Bild fügte es sich, dass er in dem für ihn ereignisreichen Jahr 1929 auch seine Frau Ilse, geborene Tenter, die Tochter eines Direktors der Aschaffenburger Zellstoffwerke, eines der größten Industrieunternehmen am Ort, vor den Traualtar führen konnte. Aus dieser Ehe sollten zwei Söhne, Hans Joachim Georg (1931) und Christian Friedrich (1935) hervorgehen.

Die zunehmende politische Polarisierung seit Beginn der dreißiger Jahre bewegte wohl auch Seidel, sich aktiv in der Politik zu engagieren. 1930 fiel er zum ersten Mal auf, als er in einer Versammlung der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes energisch das Wort gegen die Nationalsozialisten ergriff. 1932 trat Seidel in die Bayerische Volkspartei (BVP) ein, die die ganzen zwanziger Jahre über bei Stadtrats-, Landtags- und Reichstagswahlen in Aschaffenburg für sich die mit Abstand höchsten Stimmanteile von allen angetretenen Parteien verbuchen hatte können. Im Frühjahr 1933 kandidierte er für den Aschaffenburger Stadtrat, mit guter Erfolgsaussicht, denn noch bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 hatten die demokratischen Parteien in Aschaffenburg mit großem Abstand die Mehrheit gegenüber der NSDAP behaupten können. Doch da nach der Machtübernahme in Bayern auch der Aschaffenburger Stadtrat gleichgeschaltet wurde, blieb Seidel, gegen den sich gezielte persönliche Angriffe von Seiten der NSDAP richteten, ohne Mandat. In seiner Eigenschaft als Syndikus des örtlichen Einzelhandelsverbandes hatte er sich für dessen zahlreiche jüdische Mitglieder eingesetzt und musste deshalb zusammen mit zwei anderen Funktionären selbst aus dieser Funktion ausscheiden. Weil er sich mehrfach als Gegner der NSDAP exponiert hatte, geriet Seidel ins Spürnetz der Gestapo, wurde bei der bayernweiten Aktion gegen die Funktionäre der BVP im Juni 1933 vorübergehend verhaftet und konnte sich der Einlieferung in das Konzentrationslager nur durch die Flucht zu seinen Schwiegereltern in das damals litauische Memel entziehen.

Nach seiner Rückkehr wurde Seidel durch Julius Streichers NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ als undeutscher Judenfreund öffentlich angeprangert. Um seine Anwaltspraxis und damit den Lebensunterhalt für seine Familie zu retten, mied er fortan die direkte Konfrontation und entschloss sich als Minimalzugeständnis an das Regime lediglich zum Beitritt zu den nationalsozialistischen Organisationen NS-Rechtswahrerbund, NS-Volkswohlfahrt und Reichsluftschutzbund. Im Herbst 1940 wurde Seidel zur Wehrmacht eingezogen. Als Angehöriger und bald Offizier einer Panzerdivision erlebte er den Russlandfeldzug buchstäblich an vorderster Front, erhielt auch das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Bis zuletzt an der Ostfront eingesetzt, wurde er dort Zeuge des Zusammenbruchs der Wehrmacht und des Dritten Reiches.

 

3. Erste Schritte in der Politik und Aufstieg innerhalb der CSU

Aus kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Seidel Anfang Juni 1945 in seine vom Krieg schwer mitgenommene Heimatstadt zurück. Bombenabwürfe seit Herbst 1944 und massiver Artilleriebeschuss in der Karwoche 1945 hatten aus der Stadt ein Feld der Verwüstung gemacht. Vom Umfang des zerstörten Wohnraums her war Aschaffenburg nach Würzburg und Nürnberg die meistzerstörte Stadt Bayerns.

Mit der Bewältigung des Neubeginns hatte die amerikanische Militärregierung in den Führungspositionen vor allem politisch nicht belastete Vertreter vorzugsweise der SPD beauftragt. Im April 1945 war der SPD-Politiker und Druckereibesitzer Jean Stock zum Oberbürgermeister der Stadt Aschaffenburg und Landrat der Landkreise Aschaffenburg und Alzenau bestellt worden. Die ehemaligen BVP-Leute gruppierten sich währenddessen um den Regierungspräsidenten von Unterfranken, Adam Stegerwald, dessen schon in den zwanziger Jahren formulierter Gedanke einer überkonfessionellen „Union“ nun in die Tat umgesetzt wurde. Verlässt man sich auf die Erinnerungen des christlichen Gewerkschafters und Mitbegründers der CSU in Aschaffenburg, Hugo Karpf, dann war er es, der den zögernden Seidel für das Amt des Landrats vorschlug, da er sich selbst als gelernter Handwerker die Verwaltungstätigkeit nicht zutraute. Mit der Übernahme des Landratspostens durch einen Unionsmann sollte der Einfluss der SPD auf die Bürgermeister in der Region zurückgedrängt werden. „Seidel stach rasch Stock elegant aus“ – wie Karpf formulierte – und wurde am 25. Oktober 1945 von den Amerikanern zum Landrat des Landkreises Aschaffenburg ernannt. Seidel gelang es insbesondere, ein tragfähiges, konstruktives Verhältnis zur amerikanischen Militärregierung aufzubauen. Daneben engagierte er sich für eine verstärkte Kooperation der unterfränkischen Landkreise, die sich als erste in Bayern zu einer Arbeitsgemeinschaft „Landkreisverband Unterfranken“ zusammenschlossen, und knüpfte dabei auch Kontakte über die Landesgrenze hinweg nach Hessen. Nach der Kreistagswahl vom 28. April 1946, bei der die CSU 28 von 45 Kreisräten stellen konnte, wurde er denn auch in demokratischer Abstimmung in seinem Amt bestätigt.

Zusammen mit Karpf wurde Seidel im Juni 1946 für Aschaffenburg in die Verfassunggebende Landesversammlung gewählt, die von Juli bis September jeweils in München tagte und über die künftige bayerische Verfassung beraten sollte. In den Sitzungen der CSU Fraktion bezog Seidel dabei jeweils deutlich Position, besonders in der heftig geführten Diskussion um das geplante Amt eines bayerischen Staatspräsidenten. Der liberale Flügel der CSU um Josef Müller stand gegen die konservative Gruppe um Alois Hundhammer, die in dieser Frage mit dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoegner an einem Strang zog. Seidel gehörte zu jenen, die den Gedanken eines mit umfassenden Vollmachten ausgestatteten Staatspräsidenten im mangelnden Vertrauen in Demokratie und Parlament begründet sahen und sparte nicht mit scharfen Worten gegen dessen Befürworter, denen er vorwarf, sie bräuchten eine solche Institution, „um ihre Untertanengefühle abzureagieren“.

Nach Karpf war es wiederum er, der Seidel bei den ersten bayerischen Landtagswahlen am 1. Dezember 1946 zu dem für die CSU sicheren Wahlkreis Obernburg-Miltenberg verhalf; eine Kandidatur in Aschaffenburg, die er für wenig aussichtsreich hielt, hatte Seidel abgelehnt. In Obernburg errang er auf Anhieb 68,9 Prozent der Stimmen und festigte mit diesem ausgezeichneten Ergebnis – landesweit war die CSU nur auf 52,3 Prozent gekommen – seine innerparteiliche Stellung weiter; bis zum Jahr 1961 war Seidel durchgehend für den weit über dem Landesdurchschnitt industrialisierten Stimmkreis Obernburg-Miltenberg Landtagsabgeordneter.

Auf der Landesversammlung der CSU in Eichstätt am 14. und 15. Dezember 1946 war es Seidel, der den Delegierten die endgültige Schiedsordnung, die sich die CSU gab, nahebrachte, ihre grundsätzliche Bedeutung erläuterte und ihre Instanzen und Funktionsweise darlegte. Bereits damals wurde Seidel als ministrabel gehandelt, trat auch schon außerhalb Bayerns für die CSU in Aktion. Für die CSU wurde er in die im August 1946 konstituierte „Arbeitsgemeinschaft der Christlich- Demokratischen und Christlich-Sozialen Union Deutschlands“, bis 1950 „das organisatorische Bindeglied zwischen den Zonen- und Landesverbänden der Unionsparteien in Deutschland“ (Brigitte Kaff), entsandt, gehörte auch ihrem Wirtschaftspolitischen Ausschuss an, wenn er auch offenbar nur einmal, am 5./6. Februar 1947 in Königstein, an einer Sitzung teilnahm. Als die Spannungen zwischen den beiden Lagern der Union in Bayern im Sommer 1947 kulminierten, scharte Seidel die Anhänger des Parteivorsitzenden Josef Müller um sich und legte ihnen im Hinblick auf die geplante außerordentliche Landesversammlung in Eichstätt dar, es dürfe auf keinen Fall in der Parteiführung eine Änderung eintreten, weil sonst das gesamte überkonfessionelle Konzept der Union und damit ihr politischer Erfolg in Frage gestellt würde. Auf der Versammlung im August 1947 schlug Müller dann Seidel, der „auch ein ruhiger Mann“ sei, als (für Hans Ehard) stellvertretendes Mitglied des Ältestenrates der Union vor.

 

4. Wirtschaftsminister in schwerer Zeit

Als Ministerpräsident Hans Ehard auf Drängen von Müller im Herbst 1947 sein Kabinett umbildete, rückte Seidel in das höchste politische Führungsgremium Bayerns ein. Am 20. September 1947 wurde er zum Staatsminister für Wirtschaft ernannt. In seiner Berichterstattung zählte ihn damals der SPIEGEL etwas abschätzig zu den „wenig profilierten Köpfen“, die jetzt in das Kabinett Ehard einträten, kolportierte jedoch zugleich, Seidel gelte „als der kommende Mann der Union“. Diese beiden Einschätzungen widersprachen sich nur auf den ersten Blick. In der Tat war Seidel bis zu diesem Zeitpunkt einer überregionalen Öffentlichkeit noch wenig bekannt. Innerparteilich war Seidel jedoch, mit tatkräftiger Unterstützung Müllers, zu dessen Anhängerschaft er gezählt wurde, und anderer erfahrenerer Parteifreunde, immer mehr hervorgetreten. In den Gremien der Partei hatte er immer wieder mit klaren Positionen das Wort zu grundsätzlichen Problemen ergriffen und dabei durch saubere Analysen der politischen Lage und reflektiertes Bewusstsein über die Art und Weise der Durchsetzbarkeit politischer Ziele beeindruckt.

Angesichts der wirtschaftlichen Notlage und der alltäglichen Versorgungsschwierigkeiten war das Amt des Wirtschaftsministers damals alles andere als dankbar. Zwei Schwerpunkte der Tätigkeit waren in den Jahren vor der Gründung der Bundesrepublik gleichsam vorgegeben: zum einen in der bayerischen Binnenperspektive das Management des ökonomischen Mangels in allen Bereichen, zum anderen die Behauptung der spezifischen Interessen des Freistaats nach außen im Kreis der Länder und gegenüber der zentralen Verwaltung für Wirtschaft. Umgeben von einem kleinen Stab kompetenter Berater, stieß Seidel mit seiner Arbeit in beiden Bereichen auf große Anerkennung. Im Kabinett profilierte er sich rasch als selbständig urteilende Kraft, die gegenüber Ministerpräsident Ehard das offene Wort nicht scheute und ihm Versäumnisse der Staatsregierung, etwa im Bereich der Pressearbeit, immer wieder vor Augen stellte. Seidel selbst verstand es glänzend, der Parteibasis, aber auch der Öffentlichkeit die großen wirtschaftlichen Probleme und die Gründe für die mangelnde Versorgung der Bevölkerung mit den lebensnotwendigsten Konsumgütern sachgerecht darzulegen und die von der Staatsregierung eingeleiteten Gegenmaßnahmen als ausreichend zu erweisen. Im März 1949 wurde Seidel bereits, freilich neben etlichen anderen, als möglicher Nachfolger Müllers im Amt des Parteivorsitzenden gehandelt; aus Loyalität zu Müller dachte er freilich gar nicht daran, gegen ihn zu kandidieren.

Auch auf der föderalistischen Bühne agierte Seidel erfolgreich. Von Februar 1948 bis August 1949 vertrat er zusammen mit Ministerpräsident Hans Ehard Bayern im Länderrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und wehrte sich dort als Anwalt der Länder erfolgreich dagegen, dass diesen alle Lasten und politischen Fehler überwälzt wurden. Mehrfach begleitete er Ehard in dieser Zeit auch zu Ministerpräsidentenkonferenzen in Wiesbaden, Frankfurt und Düsseldorf. Auch hier vermerkten Beobachter anerkennend seine Sachkompetenz. Einen weiteren Beleg für die überregionale Resonanz seiner Arbeit stellt die Seidel wiederholt gebotene Möglichkeit dar, von der Landespolitik in die Bundespolitik überzuwechseln. Er lehnte dies jedoch sowohl ab, als er am Beginn des Jahres 1948 in der Diskussion um die Besetzung des Postens des Direktors der Verwaltung für Wirtschaft als Kandidat ins Spiel gebracht wurde, und verzichtete von sich aus darauf, sich zur Wahl zu stellen. Gleichermaßen widerstand er im Frühjahr 1950 dem nachdrücklichen Drängen von Bundeskanzler Adenauer, der ihn gerne als seinen Staatssekretär im Bundeskanzleramt – eine Stellung, die Adenauer als „schlechthin entscheidend […] für den Erfolg der Bundesregierung“ bezeichnete – gesehen hätte. Nur zwei Mal strebte Seidel von sich aus aus Bayern hinaus. Im Frühjahr 1947 hatte er für das Amt des Stellvertretenden Vorsitzenden des Verwaltungsrats für Wirtschaft in Minden kandidiert, war jedoch wegen der parteipolitischen Hintergründe der Besetzung nicht zum Zuge gekommen. 1949 kandidierte Seidel auf dem Spitzenplatz der Landesliste der CSU für den Bundestag. Es sollte eine endgültige Weichenstellung bedeuten, dass er wie alle Angehörigen der Landesliste nicht in den Bundestag einzog, da die CSU wegen der ihr neu erstandenen Konkurrenz durch die Bayernpartei damals lediglich 29,2 Prozent der Stimmen erreichte und nur Wahlkreiskandidaten ins Parlament entsenden konnte.

Dabei machte sich Seidel über den begrenzten politischen Spielraum eines Landeswirtschaftsministers, insbesondere seit der Gründung der Bundesrepublik, keine Illusionen. Dass die entscheidenden Rahmenbedingungen durch den Bund gesetzt wurden, benutzte er auch nicht als Freibrief für eigene Passivität. Vielmehr erklärte er in einem Interview: „Einer aktiven Landeswirtschaftsverwaltung öffnen sich auf dem Gebiet der Betreuung und Förderung der gewerblichen Wirtschaft reiche Möglichkeiten. Sie gipfeln in dem Bestreben, die Wirtschaftskraft des Landes nicht nur zu erhalten, sondern zu steigern. Das bedeutet, dass die alteingesessenen Betriebe unterstützt und neue Betriebe angesiedelt werden müssen, um für die überschüssigen Arbeitskräfte Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.“ Eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der bayerischen Betriebe erwartete er dabei vor allem von Frachtvergünstigungen, von der Beseitigung von Engpässen in der Energieversorgung sowie von der effizienten Nutzung der durch die Kreditprogramme des Bundes gegebenen Möglichkeiten. Angesichts der bedrängten Finanzsituation des Freistaats in jenen Jahren, in deren Konsequenz sein Ressort kaum über nennenswerte Mittel zur Vergabe verfügte, sah Seidel seine eigene Aufgabe vor allem in der Koordinierung der vielfältigen Aktivitäten im Lande.

Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, verlangte sich Seidel jahrelang persönlich das Äußerste ab. Wohl wissend um die psychologische Wirkung der ständigen Präsenz eines Regierungsvertreters, schlug er kaum eine Einladung, kaum einen Wunsch eines Wirtschaftsverbandes nach einer Ansprache des Ministers aus; „nichts als Reden und immerzu Reden“ wurde zu seinem Lebensinhalt, wie er einmal erschöpft klagte. Unentwegt von Veranstaltung zu Veranstaltung eilend, entwarf er im Laufe der Jahre Hunderte von Grußworten und Reden, wobei er oft nicht wusste, wie er seine sonstige Arbeit im Ministerium noch bewältigen sollte. Seine Ansprüche an sich selbst waren hoch gesetzt, verlangte er von einem Minister doch nicht weniger, als er solle „der Motor in seinem Ministerium für politische Lösungen sein, für seine Partei als politischer Propagandist in Erscheinung treten, einen geordneten Verwaltungsapparat haben und diesen Apparat nicht nur kennen, sondern auch beherrschen. Selbst genialische Leute brächten nicht alle Voraussetzungen mit, um diese Aufgaben restlos zu erfüllen. Es sei aber wichtig, dass sich ein Minister von den Aktenstößen, die die Bürokratie gern auf seinen Tisch lanciert, befreit und sich durch Unterhaltung mit seinen Leuten und Studium der Dinge, die ihm vorgelegt werden, um das Ministerium kümmert.“ Gerade das Letztere erwies sich freilich immer mehr als Unmöglichkeit. „Man erstickt in der Alltagsarbeit und hat keine Zeit sich abzuklären,“ schrieb er 1950 in einer Phase der Niedergeschlagenheit, und man versteht, dass er Ende 1952 das den Sparzwängen geopferte Verkehrsministerium ohne Begeisterung zu seinem bisherigen Ressort hinzu übernahm.

Sieben Jahre, von 1947 bis 1954, verbrachte Seidel im Wirtschaftsministerium in der Münchner Prinzregentenstraße. Die beachtlichen Erfolge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in dieser langen Zeit, die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, die forcierte Industrialisierung des Landes und den Ausbau der Infrastruktur dem eigenen Wirken zuzurechnen, lag Seidel fern. Nach seiner Auffassung kam es auch gar „nicht darauf an, wer den Erfolg buchen kann, sondern dass ein Erfolg erzielt wird.“ Dennoch schmerzte es ihn, wenn gerade er immer wieder zur Zielscheibe aller Angriffe auf die Staatsregierung gemacht wurde, und er stellte bitter fest, man gewöhne sich „offenbar in Bayern langsam daran, sich in allem an den armen Wirtschaftsminister zu halten“. Bitter war es auch, dass seine Amtszeit in einem ausgesprochenen Missklang endete. Die zunehmenden Unternehmensgewinne seit der Währungsreform hatten die IG Metall dazu veranlasst, die Tarifvereinbarungen vorzeitig zu kündigen und auf deutliche Lohnerhöhungen zu dringen. Seidel, der die hohen Forderungen als Gefahr für die Konjunkturentwicklung betrachtete, hatte sich frühzeitig auf die Seite der Unternehmer gestellt und sah sich in dem dann aufbrechenden großen Metallarbeiterstreik im Sommer 1954, einem der härtesten Arbeitskämpfe, der in Bayern je stattfand, scharfen Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. Diese Entwicklung belastete ihn persönlich sehr, und es scheint, dass sie zeitweise gar sein Engagement in der Politik insgesamt in Frage stellte. „Ich weiss noch nicht genau, ob ich mich aus dem politischen Leben zurückziehe oder aber, ob ich auch für die Zukunft ein politisches Amt anstreben soll,“ schrieb er Ende Juli 1954 einer Vertrauten und wollte sich selbst zwei Monate gewähren, um sich über diese Frage klar zu werden. Als sich im Herbst 1954 die politischen Ereignisse in Bayern überstürzten, sollte er wissen, wo seine Aufgabe lag.

 

5. Oppositionsführer und Vorsitzender der CSU

Bei den Landtagswahlen im Herbst 1954 konnte die CSU gegenüber 1950 einen deutlichen Stimmenzuwachs verzeichnen und wurde mit 38 Prozent der Stimmen als stärkste politische Kraft im Lande bestätigt. Völlig überraschend scheiterten jedoch die von Ministerpräsident Hans Ehard geführten Koalitionsverhandlungen. Die SPD ging mit den kleinen bürgerlichen Parteien FDP, Bayernpartei und GB/BHE ein Regierungsbündnis ein und übernahm mit Wilhelm Hoegner als Ministerpräsident die politische Führung des Freistaats. Verdutzt fanden sich die Mandatsträger der CSU auf den Oppositionsbänken des Landtags wieder.

Der unerwartete Rollenwechsel provozierte auf Seite der Union grundlegende personelle und organisatorische Veränderungen. Dem bisherigen Fraktionsvorsitzenden Prälat Georg Meixner, von dem die in der Opposition nötige Schärfe nicht erwartet werden konnte, wurde noch im Dezember 1954 ein Fraktionssprecher beigegeben. Kein anderer als Hanns Seidel, der soeben noch als möglicher Nachfolger Ehards als Ministerpräsident gehandelt worden war, übernahm diese wichtige Funktion, mit der er zugleich in die Rolle des eigentlichen Oppositionsführers hineinwuchs. Es war typisch für ihn, dass er über seine neue Aufgabe grundsätzliche Überlegungen anstellte, die im Oktober 1955 unter dem Titel: „Die Funktion der Opposition im parlamentarischen System“ veröffentlicht wurden. Er versuchte darin, die aktuelle politische Konstellation in Bayern in das Theoriegebäude der westlichen Demokratien einzuordnen und leitete daraus die Prinzipien für die eigene Oppositionsarbeit ab: „Eine nur randalisierende, alles besser wissende, nur von Taktik und nicht von Grundsätzen geleitete Opposition kann ihre Aufgabe nicht erfüllen. Gerade die Opposition, von der unmittelbaren Regierungspraxis entbunden, kann leichter auf das Grundsätzliche bedacht sein; nicht nur auf ihre besonderen Parteigrundsätze, sondern auch auf die allgemeinen Staatsgrundsätze, und zwar gegenüber opportunistischen Anwandlungen und Praktiken, die sich gerne bei den Inhabern der Macht einschleichen, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen.“

Oppositionsarbeit ist zunächst und vor allem auch parlamentarische Kärrnerarbeit. Dieser räumte Seidel großes Gewicht ein, er gehörte mehreren Landtagsausschüssen an und saß selbst von Januar 1955 bis Oktober 1957 dem Ausschuss zur Information über Bundesangelegenheiten vor. Der Versuchung, das Landtagsplenum als permanente Tribüne zu missbrauchen, auf der die Regierung vorgeführt werden konnte, widerstand er. Er trat selbst nicht oft als Redner auf, wählte vielmehr gezielt den geeigneten Augenblick, um in die offene Flanke des politischen Gegners zu stoßen. Anfangs zeigte er dabei noch eine gewisse Unsicherheit und klebte allzu sehr an seinen Redemanuskripten. Sehr wohl mit hohem taktischem Gespür begabt, brachte er dann aber wiederholt die Staatsregierung in Bedrängnis, wenn sie sich durch unbedachte Äußerungen von Regierungsmitgliedern eine Blöße gegeben hatte, und er stand nicht an, etwa den Rücktritt von Innenminister August Geislhöringer zu fordern, weil dieser dem Ostberliner „Neuen Deutschland“ gegenüber das Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht als Fehler bezeichnet hatte. Gelegentlich zeigte er auch, dass er durchaus zu polemisieren verstand. Starke Tumulte im Landtag löste er beispielsweise aus, als er die Personalveränderungen im Kultusministerium nach dem Regierungswechsel mit den Eingriffen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 verglich. Dies waren freilich Ausnahmen. Seidel orientierte sich ansonsten an seiner selbstgesetzten Vorgabe, die Oppositionsarbeit vom Grundsätzlichen her anzugehen.

Hierfür zeugen seine ausführlichen Entgegnungen auf die Regierungserklärungen von Ministerpräsident Hoegner, in denen er, ohne Kleinlichkeit im Detail, die Schwachpunkte der Regierungsprogramme analysierte, die erhebliche Diskrepanz zwischen den angekündigten Vorhaben und den gegebenen Möglichkeiten der Landespolitik aufzeigte und den deklamatorischen Charakter der Regierungspolitik bloßstellte. Betont sachlich waren auch Seidels wiederholte Wortmeldungen zum Thema der Lehrerbildung, die seinen ausgeprägten Sinn für Verfahrensfragen bei der Lösung heikler politischer Themen offenbaren. Bis heute aktuell und lesenswert sind schließlich seine Ausführungen über die Prinzipien der politischen Bildung. Angestoßen von den Regierungsplänen zur Gründung einer selbständigen Akademie für politische Bildung vertrat er für die Opposition die Auffassung von der starken Wertbindung der Politik, die eine solche Einrichtung problematisch erscheinen ließ, und untermauerte diesen Standpunkt durch grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Bildung und Wissen, Wissenschaft und Politik. Seidels parlamentarische Arbeit blieb nicht ohne öffentliches Echo. Der Münchner Merkur bescheinigte ihm 1957, man habe mit der Zeit aufgehorcht, „wenn der kleine Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht redete: seine nüchterne Argumentation nahm überall gefangen, mit seiner harten Sachlichkeit wischte er schonungslos Gefasel und Gerede beiseite und nannte die Dinge beim Namen.“

Seidels Amt als Sprecher der Opposition wurde schon zum Jahresbeginn 1955 unterbaut durch seine Wahl zum Parteivorsitzenden. Nachdem Hans Ehard mit seinem Rücktritt die Verantwortung für das Scheitern der Koalitionsgespräche nach der Landtagswahl übernommen hatte, wählten die Delegierten auf der Landesversammlung der CSU in München am 22. Januar 1955 Seidel in einer Kampfabstimmung gegen Franz Josef Strauß mit einem klaren Votum von 380 zu 239 Stimmen zu ihrem neuen Vorsitzenden. Mit Strauß und Rudolf Eberhard als Stellvertretern sowie Fritz Zimmermann als Leiter der Landesgeschäftsstelle und späterem Generalsekretär gelangen unter Seidels Ägide entscheidende strukturelle Reformen der CSU. Unter dem Druck des Verlusts der Regierungsverantwortung erhielt die Partei eine schlagkräftige Organisation, die ihren Umbau zur modernen Massenpartei ermöglichte und ihr neue Mitglieder in erheblichem Umfang zuströmen ließ. Dazu trug auch die Erneuerung der politischen Programmatik der Union bei, die – mit einem Schlüsselbegriff im politischen Denken Seidels – in eine „zeitnahe“ Form gebracht und an die seit Kriegsende rasch sich wandelnden Bedingungen der ökonomischen Modernisierung angepasst wurde. Auch die Parteiarbeit Seidels war geprägt von der Tendenz zum Grundsätzlichen. In großen programmatischen Reden suchte er seiner Partei geistige Führung zu geben, wobei er immer aufs Neue auf die Notwendigkeit klarer weltanschaulicher Positionen hinwies. Stets warnte er vor der Gefahr, die Konturen zwischen den politischen Lagern allzu sehr zu verwischen. In der Konsequenz gab der sonst so zurückhaltende Seidel sich in Wahlkampfzeiten stets kämpferisch und ermunterte seine Parteifreunde zur Offensive. Er plädierte dafür, der Wahlkampf müsse „in der Sache lebendig und hart“ geführt werden, wobei seine Einschränkung kennzeichnend ist, man müsse sich dennoch „von allen persönlichen Angriffen freihalten“.

Die von ihm geforderte weltanschauliche Klarheit bildete aus der Sicht Seidels den entscheidenden Konstruktionsfehler der Viererkoalition, hatten sich in ihr doch so auseinanderstrebende Kräfte wie die SPD als die Partei der Arbeiter und die unternehmernahe FDP, der GB/BHE als Anwalt der Flüchtlinge und Vertriebenen und die Bayernpartei als Sprecherin der im Lande Geborenen zusammengefunden. Überzeugt von dem baldigen Auseinanderbrechen einer so gearteten Regierung, bereitete sich Seidel intensiv auf die Rückkehr in die politische Verantwortung vor. Mit einer deutschen Delegation bereiste er im Herbst 1956 mehrere Wochen lang die USA und studierte in einem dichten Besuchsprogramm die ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in der damals unbestrittenen westlichen Führungsnation. Die vielfältigen Eindrücke nahm er lebhaft auf, und sie dienten ihm später häufig als Bewertungsmaßstab im Positiven wie im Negativen und gaben seinen Vorstellungen über die künftige Landesentwicklung Bayerns manchen Impuls.

 

6. An der Spitze des bayerischen Staates

Der überragende Wahlsieg von CDU und CSU bei der Bundestagswahl am 15. September 1957, der den Unionsparteien erstmals die absolute Mehrheit der Mandate eintrug, wurde zum Auslöser der politischen Wende in Bayern. Die Juniorpartner in der Viererkoalition, GB/BHE und Bayernpartei, ergriffen erschreckt die Flucht und zogen ihre Minister aus der Staatsregierung zurück. Ministerpräsident Wilhelm Hoegner blieb nichts anderes übrig, als seinen Rücktritt zu erklären.

Als unbestrittener Führer der stärksten Partei übernahm es Seidel, eine neue Regierung zu bilden, in die FDP und GB/BHE, nicht jedoch die Bayernpartei eingebunden wurden. Mit den Personalentscheidungen für sein Kabinett gab Seidel zum Teil langfristig wirksame Anstöße für die Landespolitik. So sollte der Oberpfälzer Otto Schedl, der Seidels Oppositionsarbeit publizistisch wirksam begleitet hatte, das ihm übertragene Wirtschaftsressort bis 1970 leiten und als Finanzminister noch zwei weitere Jahre im Kabinett verbleiben. Seidels Weggefährte aus seinen politischen Anfängen am Untermain, der Aschaffenburger Bürgermeister und Abgeordnete Alfons Goppel, führte gar als sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten die Staatsregierung bis ins Jahr 1978.

Am 16. Oktober 1957 wählte der Landtag Seidel mit einer Mehrheit von 110 Stimmen zum Ministerpräsidenten. Die unionseigene „CSU-Correspondenz“ widmete ihm am gleichen Tag eine treffende Charakterskizze: „Der Mann, den die CSU in dieser Situation an die Spitze des bayerischen Staates stellt, ist ein sehr nüchterner Politiker. Dr. Hanns Seidel ist weder der Vertreter einer bestimmten Interessengruppe noch bloßer Parteipolitiker noch sturer Koalitionsfanatiker. Nicht parteipolitische Winkelzüge, sondern messbare sachliche Erfolge kennzeichnen seine bisherige politische Laufbahn. Dabei hat sich Dr. Seidel während der vergangenen drei Jahre in seiner Eigenschaft als Oppositionsführer als eine motorische Kraft erwiesen – für seine Partei und für den Staat. Stabilität bedeutet für ihn nicht Stillstand, Aktivität aber auch nicht Unruhe. Seine Parole heißt Maßhalten, nicht Mittelmäßigkeit. Äußerlicher Glanz wird dem neuen Ministerpräsidenten kein Bedürfnis sein. Bayerns neuer Ministerpräsident ist ein Mann, der den nötigen Ausgleich sucht und nicht den unnötigen Kampf.“ Seidel selbst erklärte am gleichen Tag: „Die Art, wie wir die Regierungsbildung betrieben haben, sollte als ein Zeichen verstanden werden, dass wir nicht den Wunsch haben, eine Kampfregierung gegen irgend jemand aufzurichten. Wir wollen unsere Kräfte nicht in der Erhitzung von Gegnerschaften vergeuden, sondern für die Ermunterung aller Gutwilligen zur sachlichen Mitarbeit zum Wohle unseres Bayernlandes nutzen, ob sie innerhalb oder außerhalb der Regierung stehen.“

Beide Verlautbarungen wurden durch Seidels erste Aktionen als Regierungschef bestätigt. In den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellte er das Problem der Volksschullehrerbildung, das die Landespolitik seit vielen Jahren beschäftigte, aber wegen der weltanschaulichen Gegensätze zwischen den Parteien bis dato nicht hatte gelöst werden können. Den Bestimmungen des bayerischen Konkordates aus dem Jahr 1924 über die konfessionelle Bindung der Volksschule und damit auch der Lehrerbildung liefen die Forderungen nach der Gemeinschaftsschule aus dem linken und dem liberalen Lager diametral entgegen. Das öffentlich ausgetragene, kontroverse Ringen um einen sachgerechten Kompromiss in dieser Frage hatte lediglich zu einer Verhärtung der Fronten geführt. Die von Seidel eingeschlagene Strategie, um diesen „beinahe erratischen Block von der Straße der bayerischen Politik“ zu rollen, gibt ein eindrucksvolles Zeugnis seiner politischen Fähigkeiten. Sein eigener Vermittlungsvorschlag sah vor, die Lehramtsstudenten zum konfessionell gebundenen Studium nur in bestimmten Grundsatzfächern zu verpflichten. Er hatte in dem ihm eigenen Pragmatismus erkannt, „dass es nicht so sehr auf eine Institution ankommt, als auf eine entsprechende Ausbildung der Lehrer.“ Auf dieser Basis trieb Seidel unter hohem persönlichem, auch physischem Einsatz über Monate hinweg die Verhandlungen mit den Kirchen, den Universitäten und den politischen Kräften von der Öffentlichkeit abgeschirmt voran und verhinderte damit das Wiederaufleben der unfruchtbaren öffentlichen, zur Polemik tendierenden Kontroversen. Er schuf damit die entscheidenden Voraussetzungen, dass der Landtag am 2. Juni 1958 das „Gesetz über die Ausbildung für das Lehramt an Volksschulen“ ohne Gegenstimmen bei nur zwei Enthaltungen annahm und so den Weg frei machte für die Errichtung von sieben staatlichen Pädagogischen Hochschulen in allen Landesteilen, aus denen sich der Lehrernachwuchs bis zu ihrer Eingliederung in die Universitäten in den 1970er Jahren rekrutierte.

Aus den Landtagswahlen am 23. November 1958 ging die CSU deutlich gestärkt hervor und verbesserte sich gegenüber 1954 um 7 Prozent auf 45,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der Landtag wählte Seidel mit einer Mehrheit von diesmal 120 Stimmen zum zweiten Mal zum Bayerischen Ministerpräsidenten. Das Arbeitsprogramm seines kaum veränderten zweiten Kabinetts konzentrierte sich darauf, „die Wirtschafts- und damit die Finanzkraft des Landes mit allen Mitteln zu fördern und zu heben“. Insbesondere Benachteiligungen Bayerns im Wettbewerb mit den anderen Bundesländern auf dem Sektor der Energieversorgung galt es auszugleichen. Um langfristig ein konkurrenzfähiges Strompreisniveau für die bayerische Wirtschaft sicherzustellen, wurden deshalb die bereits vom Kabinett Hoegner eingeleiteten Maßnahmen zur Förderung der Kernenergie intensiviert. In Kahl am Main begannen im Juni 1958 die Bauarbeiten für ein erstes Versuchsatomkraftwerk, parallel dazu wurden die Planungen für ein großes „Demonstrationskraftwerk“ in Gundremmingen aufgenommen und schließlich die Vorstudien zur Errichtung eines Schwerwasserreaktors in Niederaichbach bei Landshut in Auftrag gegeben.

Um den steigenden Energiebedarf bis zu dem Zeitpunkt zu decken, an dem die Kernkraft ihre Wirtschaftlichkeitsgrenze erreicht haben würde, erfuhr ein zweiter Energieträger in der Amtszeit Seidels eine nachdrückliche politische Förderung. Im Frühjahr 1959 begannen die Verhandlungen über den Bau von alpenüberschreitenden Pipelines, die den Freistaat mit preiswertem Mineralöl versorgen sollten. Noch im gleichen Jahr fiel der Startschuss für eine Rohrleitung vom Mittelmeerhafen Genua nach Bayern, die die Region Ingolstadt binnen weniger Jahre zum Standort mehrerer Raffinerien und damit zur zentralen Energiedrehscheibe werden ließ.

Die immer stärkere Vernetzung der europäischen Wirtschaft wurde mit diesem Projekt gleichsam mit Händen greifbar. Seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge am 1. Januar 1958 schritt der Prozess der Einigung Europas, den Seidel nicht für eine „romantische Utopie […], sondern viel eher die Nachholung einer längst fälligen Entwicklung und die Anpassung der politischen Verhältnisse an die von der Technik geschaffenen Tatsachen“ hielt, immer rascher voran. An der Förderung dieses Prozesses hat Seidel im Rahmen seiner Möglichkeiten mitgewirkt. Im Dezember 1957 wurde er vom Bundesrat zum Vorsitzenden von dessen „Sonderausschuß für Fragen des Gemeinsamen Marktes und der Freihandelszone“ gewählt. Auch sein einziger offizieller Staatsbesuch als Ministerpräsident im Ausland, der ihn vom 21. bis 24. Januar 1959 nach Wien führte, galt vor allem Gesprächen über wichtige Infrastrukturprojekte von europäischer Bedeutung, dem Bau des Brennertunnels und der Fertigstellung des Rhein-Main-Donau-Kanals, für die sich Seidel als Aufsichtsratsvorsitzender der Rhein-Main-Donau AG stets nachdrücklich einsetzte.

Wie seine Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten gab Seidel zu wohlgewählten Zeitpunkten immer wieder dezidierte Bekenntnisse zum Prinzip des Föderalismus ab. Darin, „Kernland einer föderativen deutschen Staatsordnung zu sein“, bestand für ihn auch die besondere „deutsche Aufgabe“ Bayerns. Dabei handelte es sich keineswegs nur um Lippenbekenntnisse, denn Angriffen auf die Rolle der Länder im politischen Gefüge der Bundesrepublik trat Seidel im gegebenen Fall auch energisch entgegen. Gegen die 1958 kontrovers diskutierten Bestrebungen des Bundes, den Rundfunk in seinen Kompetenzbereich zu ziehen und ein zweites Fernsehprogramm in eigener Regie einzurichten, machte sich Seidel mit zum Wortführer des Widerstandes der Ministerpräsidenten, auch auf die Gefahr hin, sein ausgesprochen gutes persönliches Verhältnis zu Bundeskanzler Adenauer aufs Spiel zu setzen. Gleichwohl ließ Seidel nie einen Zweifel daran, dass er, der die erhebliche Verschärfung der Spannungen zwischen West und Ost mit Sorge beobachtete (Zweite Berlin-Krise 1958), der Deutschlandpolitik deutliche Priorität vor landespolitischen Sonderinteressen einräumte. Diese staatsmännische Haltung trug ihm 1958 auch die ehrenvolle Aufgabe ein, am 17. Juni im Deutschen Bundestag die offizielle Rede zum Gedenken an den Volksaufstand in der DDR des Jahres 1953 zu halten.

Sein Arbeitspensum als Ministerpräsident bewältigte Seidel – wie schon in seiner Zeit als Wirtschaftsminister – mit stetem Fleiß und eifriger Aktenarbeit, um sich mit den jeweiligen Sachverhalten persönlich vertraut zu machen. In der Staatskanzlei stützte er sich auf einen ausgesprochen kleinen, aber mit sehr erfahrenen oder außerordentlich qualifizierten Mitarbeitern besetzten Stab. Über die enormen physischen und psychischen Beanspruchungen, die das Amt mit sich brachte, zu klagen, lag nicht in seinem Wesen. Nur beiläufig vermerkte er einmal unter dem Eindruck der zähen Verhandlungen über die Lehrerbildung, „er sei aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Ressortminister der Meinung gewesen, dass der Ministerpräsident es leichter hätte, weil er nicht in die Details einsteigen muß und sich mit der Koordinierung begnügen kann. Er habe sich getäuscht.“

Die Auffassung Seidels vom Amt des Ministerpräsidenten war insgesamt frei von jedem Überschwang. Er selbst wollte in sich lediglich „den leitenden Minister, auf deutsch den leitenden Diener eines demokratischen Staatswesens“ sehen. Wenig lagen ihm die mit dem Amt verbundenen umfangreichen repräsentativen Verpflichtungen. Er suchte sie nach Möglichkeit zu reduzieren, denn wie er einmal sagte: „Er arbeite sehr gern und viele Stunden, aber zwei offizielle Essen an einem Tag seien nervenzermürbender und schwieriger als 10 Stunden angestrengte geistige Arbeit.“

 

7. Krankheit und früher Tod

Trotzdem war Seidel je länger, je weniger den physischen Belastungen des Amtes gewachsen. Schon in früheren Jahren hatte er immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt, und bei seiner ersten Regierungserklärung im November 1957 hatte er einen Schwächeanfall erlitten, der den Abschluss seiner Ausführungen vor dem Parlament verhinderte; damals hatte man als Ursache eine nicht auskurierte Grippe ausgemacht. Bei einem Verkehrsunfall auf einer Dienstfahrt im folgenden Jahr erlitt Seidel dann eine Wirbelsäulenverletzung, die ihn zu einem längeren Krankenhausaufenthalt zwang. Scheinbar rückfällig geworden, war er im Frühjahr 1959 gezwungen, die Regierungsgeschäfte für annähernd drei Monate vom Krankenbett aus zu leiten. Offenbar genesen, trat er auf der Landesversammlung der CSU in München am 13. und 14. Juni 1959 auf und wurde mit einem Votum von 95,9 Prozent der Stimmen als Parteivorsitzender bestätigt. Vom Oktober an musste sich Seidel als Ministerpräsident jedoch ständig von seinem Stellvertreter, Finanzminister Rudolf Eberhard, vertreten lassen, und Gerüchte über seinen bevorstehenden Rücktritt begannen zu kursieren.

Ihm Januar 1960 machten seine Ärzte Seidel dann unmissverständlich klar, dass er auf eine Heilung seiner bösartigen Krankheit in absehbarer Zeit nicht hoffen könne. Daraufhin erklärte Seidel am 21. Januar seinen Rücktritt. Im Urteil seiner Freunde gab dieser durch Krankheit erzwungene Schritt Seidels Leben angesichts des selbsterkämpften Aufstiegs aus bescheidenen Verhältnissen bis in das höchste Staatsamt eine besonders tragische Note.

In monatelangen Klinikaufenthalten kämpfte Seidel gegen seine Krankheit an und unterzog sich den drastischen Therapiemethoden der Zeit. Zur Untätigkeit zwingen ließ er sich durch diese belastenden Umstände nicht. Zeitlebens dem Studium von Literatur, Kunst und Philosophie zugeneigt, umgab er sich auch im Krankenbett mit Büchern und nahm von dort aus die Mühen einer umfangreichen publizistischen Aktivität auf sich, wählte seine ihm wichtig erscheinenden Reden aus einem unfangreichen Korpus aus, redigierte sie und brachte sie, zum Teil erheblich erweitert, im Druck heraus. Der Band „Weltanschauung und Politik“ dokumentierte mehrere grundsätzliche Reden, die er zwischen 1955 und 1959 vor verschiedenen Gremien der CSU gehalten hatte; „Zeitprobleme“ nannte er eine Sammlung größerer Ansprachen zu den unterschiedlichsten Themen und Anlässen, die in seiner Amtszeit als Ministerpräsident entstanden waren. Binnen eines Jahres kam noch ein drittes Buch hinzu: „Vom Mythos der öffentlichen Meinung“, eine selbständige monographische Auseinandersetzung mit der meinungsbildenden Rolle der Massenmedien, aber auch von Literatur, Kunst und Wissenschaft in der modernen Demokratie.

Wegen der 1961 bevorstehenden Bundestagswahl forderte Adenauer Seidel zunächst auf, den Parteivorsitz beizubehalten. Die gesundheitlichen Rückschläge, die ihm seine Krankheit immer wieder beibrachte, veranlassten ihn jedoch am 16. Februar 1961, auch dieses Amt niederzulegen. Nach langem, geduldig ertragenem Ringen mit der Krankheit starb Seidel, ohne noch einmal in die Öffentlichkeit zurückgekehrt zu sein, in einer Münchner Klinik an den Folgen einer Lungenentzündung. Über seinen schnellen Tod, der ihn als ersten der profilierten CSU-Politiker der Nachkriegszeit ereilte, herrschte weithin Betroffenheit. Am 9. August wurde Seidel auf dem Münchner Westfriedhof im Rahmen eines Staatsaktes beigesetzt.

In einer kurzen Gedenksitzung des Ministerrats am gleichen Tag zeichnete Ministerpräsident Hans Ehard, sein langjähriger politischer Weggefährte, der als sein Nachfolger noch einmal die Last des hohen Amtes auf sich genommen hatte, ein aus der Ergriffenheit des Augenblicks geschöpftes Bild von Seidels Persönlichkeit: „Bescheidenheit und Zurückhaltung, die Scheu vor öffentlichem Lob und leerer Rhetorik“ seien „für die vornehme, klare Art Hanns Seidels so bezeichnend“ gewesen. „Geradlinigkeit, Klarheit, kritisches und selbstkritisches Maßhalten, nüchternes Urteil, ein unbestechlicher Sinn für Recht und Gerechtigkeit und eine außerordentliche Arbeitskraft“ hätten das Wesen seiner Persönlichkeit ausgemacht. Alles in allem sei er „ein Mann mit festen Grundsätzen und unverrückbaren Zielen“ gewesen, der in der Form so liebenswürdig und in der Sache doch hart sein konnte“.

Diese im Ganzen treffende zeitgenössische Charakterisierung spricht für sich selbst. Wirkliche Kritiker der Person Seidels sind nicht auszumachen, er scheint zwar politische Gegner, aber keine Feinde besessen zu haben. Freilich erschien er, der romantische Gefühle einmal als „Vorbehaltsgut von verhinderten Dichtern und schlechten Politikern“ bezeichnete, manchem schwer zugänglich und verschlossen bis fast zur Sprödigkeit. Die, die ihn näher kannten, hoben dagegen sein soziales Verständnis und seine besondere Wärme und Herzlichkeit im persönlichen Umgang hervor, und auch die erhaltenen Briefwechsel Seidels legen von dieser verborgenen Eigenschaft beredt Zeugnis ab.

Unübersehbar und unbestreitbar ist in jedem Fall die Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit von Seidels politischem Streben. Das von ihm gezeichnete Idealbild des christlichen Politikers füllte er sehr weitgehend selbst aus als ein Mann, „der in der Politik nicht nur eine Gelegenheit zur Ausübung der Macht sieht, sondern der von der Überzeugung durchdrungen ist, dass es keine Diskrepanz zwischen Weltanschauung und praktischem Handeln geben darf, dass vielmehr Politik ein Auftrag ist, dessen Vollzug am Ende der Tage verantwortet werden muß“.