Für den Ministerpräsidenten und die CSU war dabei von Beginn des Umbruchprozesses an klar, dass eine Einigung Deutschlands nur in einem föderalen Staatsgebilde denkbar sei, was er in seiner Regierungserklärung vor dem Bayerischen Landtag unterstrich: „Grundlegendes Architekturprinzip einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung ist der Föderalismus. Die Auflösung der Länder Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, und Mecklenburg markierte in der DDR endgültig den Aufbau der kommunistischen Diktatur. Die Wiederherstellung der alten Länder auf dem Boden der DDR würde neben dem freien Wirken von Parteien und Gewerkschaften und einer nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientierten Wirtschaft dokumentieren, dass auch in diesem Teil Deutschlands wieder die Freiheit das politische Leben bestimmt.“
Ebenfalls am 14. November kündigte Streibl die Einrichtung eines eigenen Staatssekretärsausschusses der bayerischen Staatsregierung unter Vorsitz von Staatskanzleichef Wilhelm Vorndran an, der die bayerischen Hilfen beim wirtschaftlichen und politischen Neustart in der DDR begleiten sollte. Dieser nahm drei Tage später bereits seine Arbeit auf, in dem er sich mit den anstehenden Problemfeldern befasste und diese in Bereiche differenzierte, welche in die alleinige Zuständigkeit des Freistaates fielen und solche, welche die Bundesebene tangierten. So waren Fragen des Begrüßungsgeldes an DDR-Bürger, die Festlegung des Ladenschlusses an Wochenenden und Hilfen für Rückkehrer in Zuständigkeit des Sozialministeriums zu regeln. Das Staatsministerium für Wirtschaft erhielt die Aufgabe, die wirtschaftlichen Beziehungen und die Anbahnung von Kontakten sowie die Begleitung bayerischer Unternehmen bei deren Aktivitäten in der DDR zu organisieren. Wichtig war es nach der Ansicht des Regierungsausschusses, dass zeitnah weitere Grenzübergänge geöffnet werden. Zudem sollten mittelfristig weitere Verkehrsverbindungen zwischen Bayern und der DDR geöffnet werden, wobei hier eine Koordination mit dem Bund erfolgen musste.
Die vielfältig angelegten Maßnahmen Bayerns zeigten schnelle Erfolge. Bis zum Jahreswechsel 1989/90 konnten bereits 17 zusätzliche PKW-Grenzübergänge in Betrieb gehen. Im Rahmen einer regionalen Verkehrskonferenz wurden die Maßnahmen in diesem Bereich abgesteckt und definiert, sowie die finanzielle Absicherung geschaffen. Ab Januar 1990 setzte man sich zunehmend mit der Frage der weiteren großen Zahl an Übersiedlern auseinander, da man eine Entvölkerung der DDR vermeiden wollte.
Um den Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu unterstützen, war Bayern bereit, Experten in die DDR zu entsenden, die sich insbesondere dem Aufbau von Selbstverwaltungseinrichtungen und Kommunen widmen sollten. Der Ansatz der Schaffung von dezentralen Strukturen erfolgte dabei nach dem Grundsatz der „Hilfe zur Selbsthilfe“ und konzentrierte sich auf die beiden südlichen Länder der DDR, Thüringen und Sachsen. Für diese Aufbauhilfen legte der Freistaat ein eigenes Programm für Spitzenbeamte sowie reaktivierte Pensionisten auf, die in den neuen Ländern Dienst taten. Roman Leuthner kommt in seiner Untersuchung zum Ergebnis, dass in dem Zeitraum zwischen Juli 1991 und Ende 1992 über 11.000 bayerische Staatsbeamte in den Ländern Sachsen und Thüringen tätig waren.
Das Engagement des Wirtschafts- und Verkehrsministeriums stand dem in nichts nach. Auch hier entwickelten sich mannigfache Aktivitäten vom Ausbau bzw. der Wiederbelebung der Verkehrsverbindungen zwischen Nordbayern und der DDR bis hin zur Türöffnerrolle für die bayerische Wirtschaft in den neuen Ländern. Leuthner kommt auf eine Summe aller Hilfen von rund zwei Milliarden D-Mark, welche Bayern in den Jahren nach der Wende in den Wiederaufbau, staatliche Reorganisation, Verkehrsverbindungen und Wirtschaftshilfen bis 1993 investiert hat.
Eine weitere bedeutende Initiative Bayerns ging direkt von Ministerpräsident Max Streibl aus. In Anlehnung an die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz 1947 lud Streibl seine Amtskollegen im Dezember 1990 zu einer Konferenz nach München ein. Ziel war es, den Föderalismus zu stärken und damit den Ländern im wiedervereinigten Deutschland weiterhin eine starke Stellung zu sichern. Insbesondere die von Streibl formulierte These des Europas der Regionen war für die Neugestaltung des Artikels 23 GG, der die Mitwirkungsrechte der Länder in Bezug auf die europäische Einigung regelte, von großer Tragweite.
Will man eine Bilanz der bayerischen Aktivitäten rund um die Wendephase ziehen, stellt man fest, dass Bayern praktisch unmittelbar nach dem Mauerfall begonnen hat, das Zepter des Handelns in die Hand zu nehmen. War man anfangs noch mit kurzfristigen Hilfen wie dem Begrüßungsgeld für Bürger aus der DDR befasst, wandelte sich dies mit dem Einsetzen des Einigungsprozesses. Die freien Volkskammerwahlen gaben dann den Startschuss für das enorme Engagement in den Ländern Sachsen und Thüringen beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen. Bei alledem war es klare Zielsetzung des Freistaats, mit den Hilfen demokratische, föderale und marktwirtschaftliche Strukturen in der DDR zu begleiten und einen Schwerpunkt auf den Süden Ostdeutschlands zu legen.
Zentrale Punkte des Engagements bildeten dabei der Umweltschutz, der Aufbau von effizienten Verwaltungen, Kooperationen im Rettungs- und Gesundheitswesen, der Wissenschaft und Kultur sowie der Landwirtschaft und der Wiederherstellung bzw. Intensivierung von Verkehrswegen zwischen Bayern und der DDR. Der bayerischen Wirtschaftspolitik und ihrem Minister Gustl Lang kann hier ein besonders gutes Zeugnis ausgestellt werden, denn die von seinem Haus angestoßenen Programme für den Austausch von bayerischen und DDR-Betrieben, gegenseitige Messebesuche und die Begleitung bayerischer Unternehmen bei deren Engagement in der ehemaligen DDR waren von großem Erfolg gekrönt. Der Einsatz von Max Streibl für die föderalen Strukturen in der DDR bildeten schließlich einen wesentlichen Teil des Fundaments für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik über den Weg des Artikel 23.
Roman Leuthner, Die politischen und wirtschaftlichen Initiativen des Freistaats Bayern im Zuge des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses der neuen Bundesländer Sachsen und Thüringen im Zeitraum 1990 bis 1993, masch. Diss. Universität München 1995.
Stephan Oetzinger, Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Diss. Universität Regensburg 2016.
Ders., Politik und Hilfestellung des Freistaats Bayern in der Wendezeit, in: Renate Höpfinger (Hrsg.), Die Mauer ist weg! Mauerfall, Wendejahre und demokratischer Neubeginn (Bayerische Lebensbilder 5) München 2019, S. 213-233.