Bayerns "Außenpolitik" oder: Die Ministerpräsidenten des Freistaats als "Wilderer" in den Kompetenzen des Bundes

Reinhard Meier-Walser

Als der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im April 1999, wenige Wochen nach Beginn des Kosovo-Krieges, von einer von langer Hand geplanten und auf Einladung des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow zurückgehenden Reise in die russische Hauptstadt zurückkehrte, mischten sich in die mediale Begleitmusik auch kritische Stimmen, die monierten, dass der bayerische Landesvater seine Zuständigkeiten deutlich überschritten habe. Stoiber hatte, was am Werderschen Markt 1, dem Dienstsitz des Auswärtigen Amtes in Berlin, zweifellos nicht jedem schmeckte, im Verlauf seiner viertägigen Visite an der Moskwa neben Oberbürgermeister Luschkow unter anderem mit Ministerpräsident Primakow, Außenminister Iwanow, dem Staatsduma-Vorsitzenden Selesnjow und dem Vorsitzenden der Jablonko-Fraktion Jawlinskij Gespräche geführt und nach seiner Rückkehr eindringlich vor den Folgen eines eventuellen Einsatzes von Bodentruppen der NATO in Ex-Jugoslawien gewarnt.

Diplomatie „unterhalb“ der Außenpolitik

Nicht zum ersten Mal wurde 1999 einem Bayerischen Ministerpräsidenten eine Einmischung in die Angelegenheiten des Bundes vorgeworfen. Vielmehr hatte diese Kritikschiene eine lange Tradition, die bis in die Amtszeit von Franz Josef Strauß zurückreicht, der – ob er im Mai 1983 nach Togo, im Oktober 1987 nach China, wenige Wochen danach in die Sowjetunion oder im Januar 1988 nach Südafrika und Mosambik reiste – generell mit dem Vorwurf überzogen wurde, er würde in den Zuständigkeiten des Bundesaußenministers und des Bundeskanzlers „wildern“. Hintergrund dieser Vorhaltungen waren einerseits nicht völlig unbegründete Einwände gegenüber manchen Kontakten des bayerischen Regierungschefs und CSU-Vorsitzenden zu nicht unbedingt „lupenreinen Demokraten“. Andererseits müssen sie aber auch im Lichte eines von Wettbewerb, Konkurrenz, Missgunst und Neid geprägten politischen Klimas gesehen werden. Da im Zeitalter des Kalten Krieges die großen, machtpolitisch und ideologisch antagonistischen Blocksysteme um Einflusssphären rangen, reklamierte Strauß, der sich auch in dieser Frage selbstbewusst den Regularien des politischen Mainstreams entzog, im Zuge der Auswahl seiner politisch mitunter delikaten Auslandsverbindungen das Recht auf persönliche Entscheidungsfreiheit.

Die überregionalen Medien widmeten der Auslandsreisetätigkeit des Bayerischen Ministerpräsidenten breite Aufmerksamkeit und fokussierten dabei gezielt auf das Spannungsfeld seiner außenpolitischen Kompetenzen. Als Strauß etwa Anfang 1988 nicht nur von der Bonner Opposition, sondern auch von Vertretern des Regierungslagers wegen seines Besuches bei Südafrikas Staatspräsident Pieter Willem Botha angegriffen wurde, stellte „Die Welt“ zwar klar, dass es „keine doppelgleisige Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland geben“ dürfe und „für die offizielle außenpolitische Linie Genscher verantwortlich“ sei, „nicht Strauß“. Gleichzeitig betonte sie aber, dass „die Strauß-Gespräche in ihrer politischen Substanz nicht anzugreifen“ seien und dass der bayerische Regierungschef schlicht und einfach „im Ausland Gewicht“ habe.

Selbstverständlich hat Bayern niemals bestritten, dass die Pflege der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu auswärtigen Staaten „Sache des Bundes“ (Art. 32 Abs. 1 GG) ist und der Bund gemäß Art. 73 Abs. 1 GG sogar „die ausschließliche Gesetzgebung über die auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung“ besitzt. Die Länder können allerdings, soweit sie für die Gesetzgebung zuständig sind, – also insbesondere in den Bereichen Kultur, Medien, Erziehungs- und Bildungswesen, Innere Sicherheit, Gesundheitswesen, Umweltschutz und regionale Strukturpolitik – gemäß Art. 32 Abs. 3 GG „mit Zustimmung der Bundesregierung mit auswärtigen Staaten Verträge abschließen“. Im Rahmen dieser verfassungsrechtlichen Beschränkungen gehören internationale Kontakte für die Regierungen der deutschen Länder zu gängigen und in der Regel gern ausgeübten Aktivitäten. Schließlich stellen auswärtige Beziehungen seit alters her einen Kernbereich exekutiven Handelns dar, den das Parlament im Gewaltenteilungssystem repräsentativer Demokratien der Regierung nicht streitig machen kann. Daher überrascht es nicht, dass von einem Land wie Bayern, das seine staatliche Tradition pflegt und dessen Politiker ihren Aktionsradius bewusst nicht an den Landesgrenzen enden sehen möchten, außenpolitische Kontakte besonders geschätzt und gepflegt werden. Schließlich können die politischen Regierungsvertreter des Freistaates sich sogar auf die Bayerische Verfassung berufen, deren Art. 181 „das Recht des Bayerischen Staates, im Rahmen seiner Zuständigkeit Staatsverträge abzuschließen“, explizit hervorhebt. Als ein Land, das sich seit jeher als weltoffen versteht, hat Bayern von diesem verbrieften Recht stets regen Gebrauch gemacht und dabei seinen Handlungsspielraum so weit wie möglich ausgeschöpft. Mittlerweile unterhält Bayern nicht nur eine ganze Reihe von Auslandsrepräsentanzen in aller Welt, sondern, wie auf der Homepage der Bayerischen Staatskanzlei zu lesen ist, es stehen auch die Mitglieder der Bayerischen Staatsregierung persönlich „in einem ständigen Austausch mit anderen Regierungen und geben durch die persönlichen Kontakte Impulse der Zusammenarbeit auf allen Ebenen“.

Dass diese internationale Netzwerktätigkeit, die sich mittels offizieller Verbindungsstellen Bayerns u.a. von Argentinien bis Vietnam, von Russland bis Südafrika, von Israel bis China und von Bulgarien bis Kanada erstreckt, keine Konkurrenz zu den Auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland darstellt, sondern diese nutzbringend ergänzt, hat die Bayerische Staatsregierung bereits im Jahre 1988 betont, als sie in ihrem Grußwort anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Außenpolitik von „Diplomatie unterhalb der Außenpolitik“ sprach, die „wir mit föderalem Selbstbewußtsein pflegen“.

Söder reist: „Nicht ohne Merkels Segen“

Nicht alle Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern waren gleichermaßen stark an Außenpolitik interessiert. Franz Josef Strauß war zweifellos der international Aktivste von allen, wobei sein Interesse an internationalen Beziehungen schon aus seiner Zeit als Bundesverteidigungsminister in den 1950er-Jahren datierte. Bevor er im November 1978 Nachfolger Alfons Goppels als Bayerischer Ministerpräsident wurde, hatte er als Parteichef der CSU seit März 1961 bereits zahlreiche hochkarätige Auslandskontakte geschaffen und vielbeachtete internationale Reisen wie etwa im Januar 1975 zum chinesischen Staats- und Parteichef Mao Zedong durchgeführt. Daran konnte er später nahtlos anknüpfen und in diesem Zusammenhang auch die Kritik an der „Nebenaußenpolitik“ des bayerischen Regierungschefs souverän abtropfen lassen.

Für den ebenfalls international sehr aktiven Edmund Stoiber, der sein Amt als Bayerischer Ministerpräsident im Juni 1993 antrat und im Januar 1999 zusätzlich CSU-Vorsitzender wurde, standen Auslandskontakte vor allem auf dem europäischen Kontinent auf der Agenda, zumal in den 1990er-Jahren durch den Fall des Eisernen Vorhanges, die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes und die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu einer (Gesamt-)Europäischen Union die aus bayerischer Perspektive wichtigsten Weichenstellungen in Europa und seiner Peripherie vorzunehmen waren.

Horst Seehofer, der wie vor ihm Strauß und Stoiber in Personalunion CSU-Vorsitzender und Ministerpräsident Bayerns war, erntete für seine Auslandsaktivitäten wie weiland Strauß mitunter heftige Kritik als vermeintlicher „Nebenaußenminister“, wenn er etwa wie nach seiner Reise zu Russlands Staatspräsident Wladimir Putin im Februar 2016 die Sanktionen gegen Russland in Frage stellte und damit den Kurs Kanzlerin Merkels und der Bundesregierung durchkreuzte.

Anders der seit März 2018 amtierende Ministerpräsident des Freistaates Bayern Markus Söder, der Seehofer im Amt des CSU-Vorsitzenden im Januar 2019 folgte. Söder hatte sich bereits in früheren politischen Positionen, etwa als Landesvorsitzender der Jungen Union Bayern, als CSU-General­sekretär oder als Bayerischer Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten wie seine politischen Vorbilder Strauß und Stoiber für europäische und internationale Angelegenheiten interessiert und außenpolitische Akzente gesetzt. Auch er reiste als Bayerischer Ministerpräsident mittlerweile nach Moskau, auch er traf den russischen Staatschef, aber noch bevor er Ende Januar 2020 im Kreml ein nach eigenen Angaben „freundliches, sehr interessiertes Gespräch“ mit Putin führte, betonte er öffentlich, dass er die Russland-Politik der Bundeskanzlerin, „mit kleinen Schritten zu größeren Erfolgen zu kommen“, vollinhaltlich unterstütze. „Insofern“, so Söder weiter, „ist der heutige Besuch eine Verstärkung der deutschen Außenpolitik.“

In der aktuellen Corona-Krise hat der Bayerische Ministerpräsident mit seinem klaren Kurs im Kreise der deutschen Länderchefs eine deutliche Meinungsführerrolle eingenommen. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bezeichnete ihn in seiner Ausgabe vom 28. März schon als „heimlichen Corona-Kanzler“. Söders konsequentes und erfolgreiches Krisenmanagement findet im Ausland große Resonanz. Wenn die Pandemie einmal überwunden ist, wird der Hausherr in der Bayerischen Staatskanzlei auf internationalem Parkett vermutlich ein noch gefragterer politischer Gesprächspartner sein als zuvor.

Literatur

Pavel Lokshin/Thomas Vitzthum, Nicht ohne Merkels Segen, in: Die Welt vom 30.01.2020.

Reinhard Meier-Walser, Die Außenbeziehungen Bayerns, in: Politische Studien 365, Mai/Juni 1999, S. 5-15.

Rainer A. Roth, Freistaat Bayern, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale, München 2007.

Wilfried Scharnagl, Strauß in Moskau … und im südlichen Afrika. Bericht, Bilanz, Bewertung, Percha 1988.