Die ethische Komponente in Krisenzeiten – Hanns Seidel und die Soziale Marktwirtschaft

Claudia Schlembach

Der Unterschied ist gar nicht immer so groß. Der eine macht einen guten, vielleicht sehr guten Job, der andere hat das Potenzial zur Excellence. Oft zeigt sich das erst im Rückblick und meist auch nur durch besondere Situationen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 war eine solche Ausnahmesituation, auch der Ausbruch des Corona-Virus in 2019/20 gehört in diese Kategorie.

Werte: Die Anker in Krisenzeiten

Krisen dieses Ausmaßes sind extreme Belastungen für Wirtschaft und Gesellschaft. In der Essenz sind sie Spiegel der Gesamtgesellschaft, der Kultur und der zivilisatorischen Entwicklung des Landes in all seinen Facetten. Das Krisenmanagement der Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist dann gut bis sehr gut, wenn es gelingt, die Prozesspläne einer Krisen- und/oder Pandemieplanung einzuhalten und umzusetzen. Es ist exzellent, wenn es gelingt, die Menschen bzw. Mitarbeiter mitzunehmen, für die Ideen zu gewinnen und zu neuen Erkenntnissen im sozialen Beisammensein zu bringen. Wie weit das gelingt,  ist häufig eine kulturelle Frage.

Was all diese Krisen gemeinsam haben: Ist erst einmal ein bestimmtes Level an Bedrohung erreicht, tritt immer eine (Rück-) Besinnung auf zentrale Werte unseres Zusammenlebens ein. In der Wirtschafts- und Finanzkrise kam das Bild des „Ehrbaren Kaufmanns“ zu neuen Ehren. Er ist Leitbild für ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem wirtschaftlichen Geschehen und den Belangen der Gesellschaft gleichermaßen. Wirtschaftlicher Erfolg und Nachhaltigkeit sind in dieser Denkwelt gemeinsam erreichbar. Ehrbar wirtschaften, das hat in Deutschland eine lange Geschichte. Die Hanse wäre ohne dieses Prinzip nicht so erstarkt und letztlich sind es heute die Familienunternehmen, die als Sinnbild dieser Form des Wirtschaftens zeigen, dass ein Miteinander von Wirtschaft und Gesellschaft eine Win-Win-Situation ist.

Während in der Wirtschafts- und Finanzkrise die ökonomische Seite, die Auswüchse der Finanzwelt, im Fokus der Entscheider standen, hatte in der Corona-Krise die Gesellschaft die größere Aufmerksamkeit. Wo es um Menschenleben geht, ist der wirtschaftliche Aspekt weniger wichtig. Trotzdem müssen auch die ökonomischen Prozesse weiterlaufen, um die Überlebensfähigkeit in der Zeit nach den Ereignissen zu gewährleisten. Es geht immer um ein Miteinander von Wirtschaft und Gesellschaft, eine Balance zwischen Gesellschaft und Wirtschaft. So, wie es in der Sozialen Marktwirtschaft explizit verankert ist.

Werte, die in der Corona-Krise auf der Tagesordnung stehen und sicherlich notwendig sind: Zusammenhalt, Solidarität, Verantwortung gegenüber Risikogruppen, verantwortliches Verhalten im Umgang mit Engpässen der Versorgung etc. werden bemüht. Appelle von höchster Stelle beschwören diese Solidarität, die Verantwortung gegenüber sich und den anderen. Es erinnert an die sogenannte Flüchtlingskrise 2015, als Solidarität gegenüber den Flüchtlingen genauso gefordert wurde wie innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat es mit klaren Worten ausgedrückt, als er den Katastrophenfall für Bayern wegen des Corona-Virus am 16.03.2020 ausgerufen hat: Die Krise wird zum „Charaktertest“ für die Bevölkerung.

Kleiner Unterschied – große Wirkung

Hat all das etwas mit der Sozialen Marktwirtschaft zu tun, diese nach Müller-Armack dritte Form des Wirtschaftens? Angesiedelt zwischen dem freien Spiel der Kräfte und staatlich gelenkter Wirtschaft. Einem Wirtschaftsmodell, das als Exportschlager gilt, weil es die Grundlage für den Wohlstand in unserem Land abbildet. Ein Modell, für das auch Hanns Seidel, bayerischer Wirtschaftsminister von 1947 bis 1954 und von 1958 bis 1960 Bayerischer Ministerpräsident, Namensgeber der CSU-nahen politischen Stiftung, sehr befürwortete. War und ist unser Modell der Sozialen Marktwirtschaft geprägt von der christlichen Soziallehre mit all ihren Ideen wie Solidarität, Subsidiarität, Personalität und Gemeinwohl ein Modell, das ausreicht, um den gesellschaftlich-ökonomischen Herausforderungen gerecht zu werden? Das ist das Spannende: Er war der Meinung, dass es nicht ausreicht, das Soziale und das Ökonomische zusammen zu bringen. Trotz aller Bausteine, die dafür vorgesehen waren und sind: Die Tarifautonomie, die freie Preisbildung, aber auch der Fokus auf die soziale Dimension, die Teilhabe an Bildungseinrichtungen, vor allem das duale Bildungssystem und natürlich die Fürsorge für die Schwächeren in unserer Gesellschaft, die unsere Unterstützung brauchen.

Was Hanns Seidel wollte, auch in der Auseinandersetzung mit Größen wie Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, war, dass es explizit auch einer „ethischen Komponente“ braucht. Einem Momentum, das neben sozialer Verteilung und Teilhabe auch eben diese moralischen Positionen mit einbezieht: Eine ethisch-soziale Marktwirtschaft. Ein System, das nicht nur an die sozialen Komponenten denkt, sondern auch an Moral, an Werte, an Sitte, an Anstand. Er glaubte nicht, dass das im Sozialen allein abgebildet ist. Er wollte das Christliche, das Werthaltige, das Menschliche explizit in diesem Konzept sehen. Dabei scheute er als CSU-Politiker nicht die Auseinandersetzung mit den Vertretern der Schwesterpartei CDU.

Werte sollen als Handlungsoption präsenter werden

Nun, das ist auf erbitterte Widerstände gestoßen. Bis heute sind wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entitäten dagegen, ein weiteres Kriterium aufzunehmen. Sie argumentieren, dass es doch sozial sei, wenn Unternehmen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, dass es dem ökonomischen Prozess entspricht, wenn wir Löhne und Tarife gemeinsam, also zwischen den Betroffenen aushandeln. Und dabei steht sogar vor, dass wir davon ausgehen, dass Nachhaltigkeit als ethisches Prinzip im derzeitigen Modell der Sozialen Marktwirtschaft angesiedelt ist.

Aber es stellen sich Fragen: Warum müssen wir in Krisenzeiten immer wieder an die Moral der Menschen appellieren? Warum sind diese Prinzipien nicht in ähnlicher Weise verankert wie z.B. das Prinzip der Teilhabe? Warum ist die Verschmutzung der Umwelt nicht in den Statuten so deutlich erkennbar, dass jeder erkennt, dass die Vergehen nicht durch Einpreisung allein abgegolten sind  – sofern sie überhaupt eingepreist werden! Warum ist die unsichtbare Hand des Marktes im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar, wenn die Regularien des Marktes offenbar versagen und nicht über soziale
Prozesse eingefangen werden können? Sondern im Gegenteil von den sozialen Entitäten finanziert werden müssen, wie es in der Finanz- und Wirtschaftskrise der Fall war.

Wenn wir nicht immer mit Werten konfrontiert werden, dann ist das vielleicht als Handlungsoption nicht präsent in unserem Leben. Das mit dem Sozialen haben wir verstanden, da wird der Ausgleich weitgehend gelingen. Das mit dem Ökonomischen haben wir auch verstanden, weil ohne Wirtschaft ist vieles nichts. Aber wie viel davon wir in den einzelnen Positionen und zu welchem Zwecke geben sollten, wo das richtige Maß ist? Reden wir darüber auch so konstant? Wie weit oder überhaupt steht das Menschliche vor dem Profit? Wie und wo platzieren wir Werte im Verhalten von Wirtschaftsleuten und Politikern? Wann reden wir darüber? In Zeiten von Krisen? Nun, Hanns Seidel ging davon aus, dass es besser wäre, das Ganze systematisch und strukturell zu implementieren. Als CSU-Wirtschaftsminister hat er sich dafür stark gemacht.

Den Unterschied ausmachen

Denken wir nun an die Herausforderungen, denen sich die Soziale Marktwirtschaft gerade gegenübersieht. Digitalisierung, Plattformkapitalismus, Wettbewerbsverzerrungen seien nur beispielhaft genannt. Sie werden zu systematischen Veränderungen führen müssen, um die Grundidee dieses wunderbaren Wirtschaftsmodells Soziale Marktwirtschaft zu sichern. Die Frage ist: Wäre die Dynamik der Veränderung nicht implizit gewesen, wenn wir Hanns Seidel gefolgt wären und von vorneherein das ethische Abwägen als Anker aufgenommen hätten? Modelle wie der Ehrbare Kaufmann haben den Zug am Laufen gehalten. Aber das ist freiwillig, bezieht sich meist auf kleine und mittelständische Unternehmen und ist in der Welt der Mega-Konzerne zwar in CSR-Programmen niedergeschrieben, aber nicht immer gelebt.

Das ist eben der Unterschied zwischen sehr gut und exzellent! Die kleinen, aber trotzdem elementaren Unterschiede sehen und sich dafür einsetzen. In der notwendigen Ausbalancierung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft nach dem suchen, was zu Fortschritt auf menschlicher Basis antreibt. Das verfolgte die CSU in all den Jahrzehnten nach Seidels Wirken. Sie versucht, die Ökonomie der nächsten Jahre im Geiste von Excellence auszurichten und betrachtet die Wirtschaft immer auch im Kontext der ethischen Komponente. Ob es nun um Nachhaltigkeit oder Flüchtlinge oder Corona geht. Konservativ steht auch hier wieder an der Spitze des Fortschritts. Der konservative Fortschrittsgedanke ist ohne die ethische Komponente nicht denkbar.