Welche Erfahrung die Deutschen mit der Entnazifizierung machten, hing vor allem davon ab, wie weit sie sich mit dem NS-Regime eingelassen hatten, wann sie entnazifiziert wurden und in welcher Besatzungszone sie sich dem Verfahren stellen mussten. Die vier Siegermächte verwalteten ihre Besatzungsgebiete weitgehend autonom, und sie koordinierten auch ihre Initiativen zur politischen Säuberung von Staat und Gesellschaft kaum. Die USA maßen der Abrechnung mit dem Personal der nationalsozialistischen Diktatur die größte Bedeutung zu, ja sie planten und betrieben die Umgestaltung Deutschlands unter Ausschaltung aller nationalsozialistischen Einflüsse anfangs mit fast missionarischem Eifer. Die Briten gingen wesentlich pragmatischer vor. Für sie hatten eine effiziente Verwaltung und eine funktionierende Wirtschaft Priorität. In Frankreich hatte man dagegen wenig Zeit gehabt, sich auf die Besetzung Deutschlands vorzubereiten. Entsprechend improvisiert war die französische Politik, für die der Wiederaufbau Frankreichs unter Ausbeutung deutscher Ressourcen und die langfristige Schwächung Deutschlands Vorrang hatte. Aufgrund des ökonomischen, militärischen und schließlich auch politischen Gewichts der USA sahen sich aber sowohl Großbritannien als auch Frankreich gezwungen, mehr und mehr auf den amerikanischen Kurs einzuschwenken. Anders sah es in der sowjetischen Besatzungszone aus. Dort wurde die politische Säuberung von Anfang an als Teil der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ betrachtet, die dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung den Weg bereiten sollte.
Die Verlaufsgeschichte der Entnazifizierung lässt sich trotz aller Unterschiede in den vier Besatzungszonen grob in drei Phasen einteilen: In der ersten Phase agierten die Besatzungsbehörden nach dem Recht des Siegers in eigener Regie. Im Sommer 1945 kam es so zu einem „bayerischen Experiment“, als Ministerpräsident Fritz Schäffer mit Billigung der amerikanischen Militärregierung den Spagat zwischen politischer Säuberung und Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die neue bayerische Staatsverwaltung versuchte. Das Ergebnis war ein handfester Skandal, der Schäffer sein Amt kostete. In der zweiten Phase kam es dann zu einer mehr oder weniger weitgehenden deutschen Beteiligung, wobei sich in den Westzonen nach dem Vorbild der amerikanischen Besatzungszone ein System planmäßiger Einzelfallprüfungen mit der starken Tendenz zur Rehabilitierung der Betroffenen herausbildete. Die dritte Phase stand dagegen im Zeichen des überstürzten Abschlusses der Entnazifizierung. Der beginnende Kalte Krieg beherrschte nun die internationale Politik; West- und Ostdeutschland rückten in die Rolle potentieller Partner, und mit dieser neuen Rolle vertrug sich eine Fortsetzung der Entnazifizierung schlecht.
Das Kernstück der Entnazifizierung bildete das Spruchkammerverfahren, das mit dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 in der amerikanischen Besatzungszone obligatorisch wurde. An der Wiege des Gesetzes stand mit Anton Pfeiffer auch ein führender Politiker der CSU. Am Beginn des Verfahrens stand die Registrierung der gesamten erwachsenen Bevölkerung durch die berühmt-berüchtigten Meldebogen. Den öffentlichen Klägern bei den Spruchkammern kam dann die Aufgabe zu, diese auszuwerten, die nicht vom Befreiungsgesetz betroffenen Personen aus dem Verfahren zu nehmen und den Rest nach ihrer formalen Belastung in die fünf Kategorien Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete einzuteilen. Diese vorläufige Einstufung war alles andere als nur ein formaler Akt, denn mutmaßliche Hauptschuldige und Belastete durften bis zum Abschluss ihres Verfahrens nur in untergeordneten Stellungen beschäftigt werden.
Die Spruchkammern bestanden zum Teil aus geschulten Juristen, zum Teil aus Laien, die von den politischen Parteien, also auch von der CSU, benannt wurden. Im Verfahren kam es jedoch nicht etwa dem öffentlichen Kläger zu, die Schuld des Betroffenen zu beweisen, Letzterer musste vielmehr die auf den formalen Belastungskriterien beruhende Schuldvermutung widerlegen. Das Verfahren wurde mit einem Spruch der Kammer abgeschlossen, der je nach Grad der Belastung Sühnemaßnahmen festlegte. Hauptschuldige mussten dabei mit bis zu zehn Jahren Arbeitslager und vollständigem Vermögenseinzug rechnen. Allerdings war es möglich, gegen die Entscheidung der Spruchkammer Berufung einzulegen. Das größte Problem für die Spruchkammern war die erdrückende Menge der Fälle, die in der Mehrzahl Bagatellfälle waren. Um die enorme Zahl der Verfahren überhaupt bewältigen zu können, wurden 1946 und 1947 großzügige Amnestien erlassen. Die Zahl derer, die von diesen Amnestien profitierten, übertraf schließlich die Zahl der tatsächlich durchgeführten Spruchkammerverfahren bei weitem. Zunächst bemühten sich die Spruchkammern darum, die Masse der minderschweren Fälle zu bearbeiten, um den Weg für die Rehabilitierung der ungefährlichen Mitläufer und Opportunisten freizumachen. Die schweren Fälle ließ man warten, und diese Strategie sollte erhebliche Konsequenzen haben, denn als die Entnazifizierung 1948 im Zuge des heraufziehenden Kalten Kriegs mehr oder weniger überstürzt abgebrochen wurde, kam dies einer Amnestie für schwer belastete Personen gleich. Die CSU trauerte der Entnazifizierung nicht nach, im Gegenteil: Im Vorfeld der Gründung der Bonner Republik und der ersten Bundestagswahlen ging es der bayerischen Unionspartei – und nicht nur ihr – darum, auch um die Stimmen der „Ehemaligen“ zu werben.
Betrachtet man die quantitative Bilanz der Entnazifizierung in der amerikanischen Besatzungszone, so mutet sie wie ein Nullsummenspiel zwischen politischer Säuberung und Rehabilitierung an. Mehr als 13 Millionen Frauen und Männer hatten bis zum Sommer 1949 den vorgeschriebenen Meldebogen ausgefüllt; davon waren 3.623.112 vom Befreiungsgesetz betroffen. Die Spruchkammern verfolgten jedoch lediglich 950.126 Fälle weiter – wobei es freilich nur in etwa zehn Prozent der Fälle zu einer mündlichen Verhandlung kam –, die übrigen Verfahren wurden eingestellt oder fielen unter die diversen Amnestien. Als Hauptschuldige stuften die Spruchkammern in der US-Zone 1.654 Personen ein, zu Belasteten wurden 22.122 Personen erklärt. Sieht man von den wenigen Hauptschuldigen und Belasteten einmal ab, so kam die Entscheidung der Spruchkammer für die Masse der ehemaligen Nationalsozialisten einer Eintrittskarte in die demokratische Nachkriegsgesellschaft gleich. Die entlassenen Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes kehrten zumeist ebenso an ihre Schreibtische zurück wie die aus ihren Stellungen entfernten Führungskräfte der Wirtschaft. Schon kurz nach der Gründung der Bundesrepublik machte ein unangenehmer Begriff Karriere: Restauration.
Aber ist die Entnazifizierung tatsächlich grandios gescheitert? Waren die Spruchkammern wirklich nicht mehr als eine „Mitläuferfabrik“ (Lutz Niethammer)? In den Spruchkammerverfahren ging es nicht nur um Urteile, so groß ihre Bedeutung für den Einzelnen auch sein mochte. Die öffentlichen Sitzungen der Säuberungsgremien, über die in der Presse oft in groß aufgemachten Artikeln berichtet wurde, trugen auch viel dazu bei, die nationalsozialistische Diktatur und ihre Repräsentanten vor Ort als unmenschlich, verbrecherisch und korrupt zu entlarven. Damit trugen die Spruchkammern aber früh zu einer Stigmatisierung des Nationalsozialismus bei, die für die zweite deutsche Demokratie konstitutiv werden sollte. Nur wer wenigstens äußerlich der NS-Ideologie abgeschworen und sich auf den Boden der neuen Ordnung gestellt hatte, konnte damit rechnen, nach seiner Rehabilitierung wieder seine alte Stellung zu gewinnen. Der Entnazifizierung kam in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Rolle zu, denn wer im Zuge seines Spruchkammerverfahrens die eigene politische Identität verdrängen und verleugnen musste, der konnte schlecht zum Status quo ante zurückkehren, nachdem sich der Sturm gelegt hatte, zumal er nicht sicher sein konnte, ob ihn die Schatten der Vergangenheit nicht doch einmal einholten. Man mag die moralische Unschärfe und die damit verbundenen Versäumnisse bedauern; aufgrund des Erfahrungshorizonts der „Ehemaligen“ und des herrschenden Anpassungsdrucks ging davon aber zumindest keine Gefahr für die demokratische Ordnung aus.
Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, hrsg. von Clemens Vollnhals in Zusammenarbeit mit Thomas Schlemmer, München 1991.
Klaus-Dietmar Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, „Entnazifizierung“, Strafverfolgung, in: ders./Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 21-83.
Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin/Bonn 1982.
Cornelia Rauh-Kühne, Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995) S. 35-70.
Thomas Schlemmer, Ein gelungener Fehlschlag? Die Geschichte der Entnazifizierung nach 1945, in: Martin Löhnig (Hrsg.), Zwischenzeit. Rechtsgeschichte der Besatzungsjahre, Regenstauf 2011, S. 9-33.