"Grand Design" – Das Europakonzept von Franz Josef Strauß

Reinhard Meier-Walser

„Die Vereinigten Staaten von Europa, mit einer eigenen nuklearen Abschreckungs­macht, müssen in der Lage sein, sich selbst zu schützen, um eine gleichberechtigte Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika verwirklichen zu können.“ Diese Forderung könnte so oder ähnlich im Jahr 2020 von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron formuliert worden sein. Tatsächlich ist sie weit über 50 Jahre alt und stammt vom damaligen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der in den 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der Zuspitzung der internationalen Sicherheitslage wichtige Anstöße zur Weiterentwicklung der politischen Einigung Europas gab. Im Mittelpunkt seines „Grand Design“, das einen anspruchsvollen Plan zur Vertiefung insbesondere der außen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit Europas als Strategie zur Bewältigung dessen weltpolitischer Herausforderungen skizzierte, stand das Ziel einer Einigung Westeuropas als „Vorstufe“ zu den auch die Völker Mittel- und Osteuropas umfassenden „Vereinigten Staaten von Europa“. Das vereinigte Europa sollte als eigenständige dritte Kraft zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion rangieren und die Position der freien Gesellschaften sichern und verbessern.

Politische Einheit als Versicherung gegen sowjetische Machtansprüche

Die Forderung einer Forcierung der politischen Integration Westeuropas leitete Strauß von der Überlegung ab, dass Moskaus europapolitisches Kernziel auf die Konsolidierung und Erweiterung seiner im Zweiten Weltkrieg erreichten Machtposition gerichtet sei. Die einzelnen europäischen Nationalstaaten seien dem russischen „Bären“ gegenüber hoffnungslos unterlegen. Nur ein geeintes Europa könne den Machtansprüchen der Sowjetunion durch ein angemessenes politisches und militärisches Potenzial glaubwürdig entgegentreten. Entgegen der von ihm für notwendig befundenen Vertiefung konstatierte der CSU-Vorsitzende Mitte der 1960er-Jahre allerdings, dass die Einigung Europas „ins Stocken geraten“ sei und die europäische Politik „auf der Stelle“ trete, zumal seit dem Scheitern der sogenannten „Fouchet-Pläne“ zur Schaffung einer Europäischen Politischen Union im April 1962 keine formellen Verhandlungen in dieser Frage mehr stattgefunden hatten.

In diesem Stillstand sah Strauß auch insofern ein Alarmsignal für Deutschland und Europa, als er davon überzeugt war, dass die untrennbar mit dem nuklearen Schutzschirm der USA verknüpfte Sicherheit der westeuropäischen Partner Washingtons angesichts der Veränderungen der weltpolitischen Großwetterlage deutlich stärker als zuvor auch auf europäische Schultern gelegt werden müsse. Konkret befürchtete er nämlich, dass die Vereinigten Staaten aufgrund ihres Engagements im Vietnam-Konflikt und in anderen Krisenherden im ostasiatisch-pazifischen Raum mehr und mehr mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt seien und die Bündnisverpflichtung Washingtons für dessen Partner in Europa allmählich in den Hintergrund treten würde. Unter dem Druck einer „weltweiten Überbeanspruchung ihrer Kräfte“ hätten die USA sich bereits gezwungen gesehen, ihre kompromisslose Opposition gegenüber der sowjetischen Strategie der Machterweiterung zugunsten einer Politik der „Entspannung“ aufzugeben. Hinter der Vokabel „Entspannungspolitik“ verbarg sich für Strauß ohnehin lediglich ein propagandistisches Täuschungsmanöver Moskaus, um Washington gegenüber Kooperationsbereitschaft zu signalisieren, gleichzeitig jedoch unter dem Deckmantel vermeintlicher „Entspannung“ den kommunistischen Machtbereich in Europa sukzessive vergrößern und einen „neutralistischen Staatengürtel von Skandinavien bis Italien“ schnüren zu können.

Hier schließt sich wieder der argumentative Kreis zur Notwendigkeit einer Beschleunigung der politischen Einheit Europas. Strauß glaubte, mit dieser Forderung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: Einerseits sei nur ein geeintes Europa in der Lage, seine Position gegenüber den offensiven Machtansprüchen Moskaus zu bewahren; zum anderen würde ein starkes Europa auch für die USA ein wertvoller Partner sein, um ihre eigenen Herausforderungen besser bewältigen zu können. Nicht deutlich genug, so Strauß, könne man den Alliierten jenseits des Atlantiks die Überzeugung vortragen, dass, „was gut ist für die politische Konsolidierung und Eigenständigkeit Europas, ist auch gut für die Vereinigten Staaten von Nordamerika.“

Die deutsch-französische Achse als Dreh- und Angelpunkt

Nachdem er zum einen davon überzeugt war, dass ein fragmentiertes Europa dem sowjetischen Machtstreben weitgehend wehrlos ausgeliefert sei, zum anderen aber sah, dass der europäische Integrationszug stecken geblieben war, unternahm Strauß mit seinem „Entwurf für Europa“ einen neuen Anlauf, den Einigungs-Prozess wieder in Bewegung zu bringen. Oberste Priorität maß Strauß dabei nicht der wirtschaftlichen oder handelspolitischen Dimension bei, sondern dem politischen Ziel der Schaffung eines starken Europa, das in der ersten Liga der Weltpolitik spielt und weltweite Bedeutung genießt. Während er auf längere Frist eine gesamteuropäische Integration aller Völker des Kontinentes anpeilte, sah sein von nüchternem und rationalem Kalkül geprägter Europa-Plan vor, sich zunächst auf den politischen Zusammenschluss der sechs Gründungsmitglieder der Gemeinschaft zu konzentrieren. In den ersten Schritten sollten die Bemühungen auf die Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik konzentriert werden. Neben konventionellen Streitkräften sprach sich Strauß auch für die Entwicklung einer europäischen nuklearen Abschreckungskapazität aus, wobei das britische Atomarsenal beteiligt werden sollte.

Was die Frage der Akteursqualität der zu schaffenden Politischen Union anbetraf, so schränkte Strauß ein, dass in vitalen Sicherheitsbelangen wie der Außen- und Verteidigungspolitik die entscheidenden Souveränitätsrechte solange bei den einzelnen Nationalstaaten verbleiben müssten, bis sie „auf eine europäische Bundesregierung übertragen werden können“. Diese politischen Kernbereiche der europäischen Integration ließen sich nicht von supranationalen Institutionen aus beeinflussen, die „schließlich auch nur zu wirtschaftspolitischen Zwecken geschaffen wurden“. Um aber einem politisch geeinten Europa mit dem Fernziel einer europäischen Bundesregierung näherkommen zu können, hielt Strauß es für nötig, dass die beteiligten Länder sich zunächst auf essentielle Grundlagen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verständigten. In diesem Zusammenhang legte er sein Augenmerk primär auf die Abstimmung zwischen Paris, London und Bonn. Als Vertreter des Politischen Realismus war er sich, ohne die Bedeutung der kleineren Partner schmälern zu wollen, nahezu sicher, diese zur Mitwirkung bewegen zu können, wenn es vorab gelänge, dass „England, Frankreich und Deutschland eine gemeinsame Grundlage finden“.

Da Frankreichs Präsident Charles de Gaulle eine Mitgliedschaft Großbritanniens in der EWG wegen Londons engen Beziehungen zu Washington („special relationship“) kategorisch ablehnte, gleichzeitig aber die durch die enge Freundschaft zwischen De Gaulle und Bundeskanzler Adenauer geschaffene Achse Paris-Bonn den „Motor“ der europäischen Einigung verkörperte, bildete das bilaterale Beziehungsgefüge zwischen Frankreich und Deutschland den Dreh- und Angelpunkt im „Entwurf für Europa“. Die Gestaltung einer politischen Union Europas sei, davon war Strauß überzeugt, schlichtweg nicht denkbar, „bevor sich nicht Frankreich und Deutschland auf einen gemeinsamen Standpunkt geeinigt haben; denn ohne eine deutsch-französische Einigung ist in Europa kein Fortschritt möglich“.

Literatur

Grundsatzrede Macrons vor Absolventen der „École de Guerre“ in Paris Anfang Februar 2020 (Europa solle „seine Ver­teidigung selbst in die Hand nehmen“ und Angebot eines „strategischen Dialogs“ über das französische Atomwaffenarsenal an alle EU-Partner), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.2020, „Atomwaffen für Zuschauer“.

Franz Josef Strauß, The Grand Design. A European Solution to German Reunification, London 1965. Ders., Entwurf für Europa, Stuttgart 1966. Ders., Herausforderung und Antwort. Ein Programm für Europa, Stuttgart 1968.