Herzkammer der CSU? – Die CSU-Landtagsfraktion

Udo Zolleis

Die eigenen Abgeordneten, ja sogar das fraktionseigene Magazin nennt die CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag die „Herzkammer“ der CSU, weil sie „Selbstbewusstsein, Ideen, Argumente und starke Führungspersönlichkeiten in sich vereint und den politischen Herzschlag vorgibt“. (Martin Neumeyer zit. nach Bürger S.264). Dieser hehre Selbstanspruch wird von der Wissenschaft kritisch beäugt, ob die Fraktion nun „Denkfabrik“ oder schlicht „Erfüllungsgehilfe“ der Staatsregierung sei (ebd.). Beide Kategorien werden aber dem politischen Anspruch der Landtagsabgeordneten wenig gerecht. Vielmehr soll an den CSU-Abgeordneten vorbei in Bayern keine Politik gestaltet und entschieden werden können. In anderen Worten: Die CSU-Fraktion versteht sich als das Rückgrat der CSU-Macht in Bayern.

Rückgrat der CSU-Macht in Bayern

In der politischen Wirklichkeit ist eine Parlaments-„Fraktion“ – wie ihr Name schon sagt – immer Teil eines größeren Ganzen; im Fall der CSU-Fraktion in dreierlei Hinsicht: Erstens gegenüber dem Parlament; die CSU-Fraktionsgemeinschaft will maßgeblich und möglichst mit absoluter Mehrheit die Regierungspolitik parlamentarisch gestalten und bestimmen. Der Grundsatz der parlamentarischen Demokratie „Mehrheit“ vs. „Minderheit“ fügt die CSU-Fraktion in die Aktions­gemeinschaft einer „Regierungsmehrheit“ ein. Diese zu sichern und zu gestalten, bildet ihre Kernaufgabe. Zweitens sind innerhalb dieser Regierungsmehrheit ihre Abgeordneten der einzig demokratisch direkt legitimierte Bestandteil. Damit ist die Fraktion vielleicht nicht immer Antreiber, aber dennoch Letztentscheider über die Regierungspolitik, aber eben auch – wenn es hart auf hart kommt – über die Regierungsmannschaft. Drittens ist die Fraktion ein Spiegelbild der Partei. Maßgebliche CSU-Bezirksvorsitzende und die Mehrheit der Kreisvorsitzenden sind Mitglieder der Fraktion. Diese Doppelfunktionen führen weniger zu einem Gegensatz Partei versus Fraktion, sondern vielmehr zu einer ausgeprägten Parteiverantwortung der Fraktion. Die CSU-Abgeordneten bilden – überspitzt gesagt – einen immerwährenden kleinen Parteitag ab. Für eine Volkspartei ist die CSU-Mitgliedschaft wie auch die Kommunalebene viel zu entscheidend, das Regierungsselbstverständnis der CSU zu bestimmend und ihr bundes- wie auch europa­politischer Anspruch zu ausgeprägt, als dass die CSU-Fraktion alleiniger Kopf und Hirn der Partei sein könnte. Dennoch kann parteipolitisch eben auch keiner an den Fraktionsmitgliedern vorbei, was bereits der erste CSU-Vorsitzende Josef Müller schmerzlich erfuhr und letztlich auch in seinem erzwungenen Rücktritt mündete.

Konzentration, aber keine Fixierung auf Bayern

Die besondere Bedeutung der Landespolitik für die CSU spielt dem parteiinternen politischen Gewicht der Fraktion in die Hände. Das vorrangige Parteiziel der CSU ist schlicht der Regierungsauftrag für und in Bayern. Im Alltag wird dieser eben von der Fraktion parlamentarisch getragen und demokratisch abgesichert. Nicht nur ist der Landtag der Kristallisationspunkt der bayerischen Staatlichkeit, sondern auch versteht die CSU als Gesamtpartei ihren Politikauftrag aus Bayern heraus. Mag das Kraftzentrum der CSU sicherlich nicht ausschließlich innerhalb der Landtagsmauern liegen, die Fäden der CSU-Macht laufen dennoch in München und nicht in Berlin zusammen. Aufgrund diesen zu anderen Parteien und deutschen Ländern unterschiedlich gelagerten Gewichtungen der Politikebenen ist die mediale und innerparteiliche Bedeutung der Landes­politik in Bayern wesentlich stärker ausgeprägt. Dieses Selbstbewusstsein wird auch dadurch unterstrichen, dass die CSU-Fraktion nicht nur an Abgeordnetenzahl die größte, sondern aufgrund der Mitarbeiterschaft wie auch der Finanzmittel die am besten ausgestattete Landtagsfraktion im gesamten Bundesgebiet darstellt. In Bayern fristet Landespolitik eben kein Mauerblümchendasein. Vielmehr betrachtet die Landtagsfraktion bayerische Politik selbstbewusst oftmals in einem größeren Kontext. So werden von der Fraktion hochrangige Regierungschefs und wissenschaftliche Experten zu Klausurtagungen wie zu „Politischen Clubs“ eingeladen.

Gerade die Sonderstellung der CSU bei einer CSU-Regierungsbeteiligung in Berlin mit ihrem de facto Veto-Recht des CSU-Vorsitzenden rückt wichtige bundespolitische Entscheidungen auch in die Fraktionsräume des Maximilianeums. Beispielsweise prägte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 gerade auch die Landtagsfraktion den Flüchtlingskurs der Gesamtpartei, und darüber diskutierten die Abgeordneten auf ihren Klausurtagungen in Kloster Banz mit Sebastian Kurz und Angela Merkel. Aber auch fern der brisanten Krisen stimmt der CSU-Chef Berliner Koalitionsausschussergebnisse nicht nur mit der Landesgruppe, sondern auch mit seinen Landtagskollegen ab.

Dabei sieht sich die CSU-Fraktion weniger als Gralshüter der reinen Lehre, sondern ist der Regierungsarbeit für Bayern verpflichtet. Das macht ihren politischen Kurs enorm pragmatisch. Auch wenn seit Beginn der 1970er-Jahre aufgrund des Inkompatibilitätsgesetzes keine hauptamtlichen Kommunalpolitiker wie Landräte oder Bürgermeister mehr dem Landtag angehören dürfen, ist dennoch die weitaus überwiegende Mehrzahl der Fraktionsmitglieder kommunalpolitisch verankert. Gleichzeitig versucht die Fraktion, ihre Mehrheitsfähigkeit abzusichern, indem sie gesellschaftliche Konflikte eben nicht verstärkt, sondern mittels trag­fähiger Kompromisse auflöst. Ihre Lösungskonzepte müssen eben nicht nur gut klingen, sondern vor allem den Praxistest bestehen. Beispielsweise erzeugen ihre Resolutionen auf den Klausur­tagungen zwar nicht die gleiche mediale Resonanz wie die der Landesgruppe, jedoch dienen sie als Blaupausen für späteres Regierungshandeln. Alles andere wäre auch für eine Mehrheitsfraktion ein politischer Offenbarungseid.

Selbstbewusste Parlamentarier

Die Fraktion verkörpert schließlich den parlamentarischen Arm der Aktionsgemeinschaft „Regierungsmehrheit“. Mögen manche Ministerialbeamte von einer Gewaltenteilung a la Montesquieu träumen, haben sie Walter Bagehot nie gelesen. In einer parlamentarischen Demokratie gibt es im Regierungsalltag keine scharfe Trennung zwischen Exekutive und Legislative, sondern allein zwischen Regierung und Opposition. Eine Regierungsfraktion ist dennoch nicht dazu verdammt, alles seitens der Regierung Vorgelegte in treuer Gefolgschaft einfach durchzuwinken. Um es mit den Worten von Alfons Goppel zu sagen: „Eine bequeme Parlamentsfraktion hat weder als Oppositionspartei noch in der Regierungsverantwortung jemals ihre parlamentarische Aufgabe erfüllt.“ (zitiert nach Maicher S.45). Darauf achten besonders die Arbeitskreisleiter. Gemeinsam mit dem jeweiligen Staatsminister prägen sie maßgeblich die Regierungsarbeit „ihres Ressorts“. Durch eine ausgeprägte Fraktionshierarchie haben sie meist ein enormes Renommee innerhalb der Faktion und bilden gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden und seinen Stellvertretern das strategische Zentrum der Fraktion. Sie sitzen an den Schalthebeln der landespolitischen Schlüssel- wie Tagesentscheidungen.

Zudem stellt die Landtagsfraktion gerade durch die Verankerung ihrer Abgeordneten vor Ort, deren regionale wie auch berufliche Erfahrung und aufgrund der programmatischen Breite ein wichtiges Frühwarnsystem und mögliches Korrektiv, vor allem aber eine informelle Kontrolle und Steuerung der Regierungsarbeit dar. Interessanterweise liegt bspw. der Haushaltsausschussvorsitz anderes als im Deutschen Bundestag nicht in den Händen der größten Oppositionsfraktion, sondern wird aus der CSU-Fraktion rekrutiert. Ihren Einfluss auf die Staatsfinanzen nutzen die CSU-Abgeordneten weidlich, um Regierungsprojekte zu steuern, zu hinterfragen und manche Schwerpunkte umzuschichten. Selbst in Zeiten absoluter CSU-Landtagsmehrheiten wurde nie ein Haushalt in gleicher Form vom Landtag beschlossen, wie er von der Staatsregierung eingebracht wurde. Gleiches traf für die Mehrzahl der Gesetze zu. „Parlamentarisch handeln“ heißt bei der Fraktion eben kontrollieren, anstoßen, nachhaken, verändern, beschließen, aber nie implementieren; das ist das Vorrecht der Exekutive. Gerade auch weil die Landesebene durch den kooperativen Föderalismus die bestimmende Verwaltungsebene ist, stellt diese Arbeitsteilung für die Fraktion zwar kein Demokratie-, aber mitunter ein Sichtbarkeitsproblem dar.

Garant für personelle Selbsterneuerung

Die medialen Scheinwerfer leuchten auf die Landtagsfraktion vor allem dann, wenn ein personeller Gezeitenwechsel ansteht. Um den Regierungsanspruch über eine Legislaturperiode oder auch einer politischen Kohorte zu sichern, kommt der Landtagsfraktion die Aufgabe zu, personelle Führungswechsel zu initiieren, zu entscheiden und auch deren möglichen Verwerfungen abzufedern. Personelle Selbsterneuerung ist für eine langfristige Machtsicherung elementar. Zwar ist in der Bayerischen Verfassung anders als im Grundgesetz und in der Mehrheit der anderen Landesverfassungen die Abwahl des Regierungschefs nicht vorgesehen. In ihrer Geschichte hat die Landtagsfraktion aber bewiesen, dass sie von dem ihr nicht gegebenen Recht jedenfalls öfters gebraucht gemacht hat als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mit Ausnahme Wilhelm Hoegners (SPD) ist kein Ministerpräsident gegen den Willen der Landtagsfraktion in die Staatskanzlei eingezogen.

Dem bayerischen Regierungschef stand ein Fraktionsvorsitzender gegenüber, der seine oder ihre Rolle stets unterschiedlich interpretierte. Allerdings eines war er oder sie nie: der geborene Nachfolger des Regierungschefs. Bis heute wurde im Nachkriegsbayern noch kein Fraktionsvorsitzender Ministerpräsident. Selbst Hanns Seidel war als Oppositionsführer Parteivorsitzender und hatte das extra für ihn geschaffene Amt des Sprechers der CSU-Fraktion inne. Fraktionsvorsitzer war und blieb Prälat Meixner. Anders als manches Staatsamt konnte das Amt des Fraktionsvorsitzenden vom Amtsinhaber ganz unterschiedlich ausgelegt werden, was nicht nur am jeweiligen persönlichen Naturell, sondern auch an den ganz spezifischen politischen Gegebenheiten lag. Waren die Fraktionsvorsitzenden Franz Heubl und Ludwig Huber zugleich Staatsminister und Gerold Tandler zweitweise CSU-Generalsekretär, so bündelte Alois Glück als Fraktionsvorsitzender die Aufgaben als eloquenter Debattierer, geschickter Machttaktiker, fraktionsinterner Brückenbauer, ausgleichender Mahner gegenüber einem ambitionierten Regierungschef und programmatischer Parteivordenker wie kein Zweiter und unterstrich, dass der Fraktionsvorsitz neben dem Ministerpräsidenten das Spitzenamt in der bayerischen Landespolitik sein kann.

Die Rolle der Landtagsfraktion im Machtgefüge sollte nicht unterschätzt werden. Für die Macht­sicherung der CSU in Bayern ist eine aktive Landtagsfraktion unerlässlich. Mag manche Fraktionssitzung für einen Ministerpräsidenten auf dem Zenit seiner Macht eine lästige Pflichtübung sein, das Gespräch mit seinen Fraktionskollegen sichert dem Regierungschef die notwendige Bodenhaftung, um sein Amt erfolgreich ausüben zu können. Andernfalls werden eben die gleichen Abgeordneten ihm seine Grenzen vor allem auch die seiner Amtszeit bewusst vor Augen führen. Das einzigarte Erfolgsgeheimnis der CSU liegt in ihrer Kraft zur Selbsterneuerung. Und dabei hat die CSU-Landtagsfraktion die entscheidende Rolle inne. Sie ist das Rückgrat der CSU-Macht in Bayern.

Literatur

Alexandra Bürger, Die CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag – treuer Erfüllungsgehilfe des Ministerpräsidenten oder eigenständige Denkfabrik, in: Gerhard Hopp, Martin Sebaldt, Benjamin Zeitler (Hrsg.), Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010, S. 261-286.

Alois Glück, In Verantwortung für Bayern, München 1996, darin: ders., Die Regierungsfraktion – neue Tendenz mit der Wahl 1970, S. 28-35; Peter Maicher, Was ist eine Fraktion?, S. 36-45.

Andreas Kießling, Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004.

Alf Mintzel, Geschichte der CSU. Ein Überblick, Opladen 1977.

Michael Weigl, Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden 2013.