Strauß und Mao – Gemeinsam den "großen Bären" bezwingen?

Reinhard Meier-Walser

Es mag verwegen klingen, aber die CSU besaß im Zeitalter der Ost-West-Konfrontation ein gemeinsames strategisches Ziel mit der Kommunistischen Partei der Volksrepublik China  – die Begrenzung der weltpolitischen Machtexpansion der Sowjetunion. Diese Gemeinsamkeit, die zu Beginn der 1970er-Jahre im beiderseitigen Interesse einer Vertiefung der Kontakte Ausdruck fand, mündete u.a. im Januar 1975 in einer denkwürdigen Reise von Franz Josef Strauß ins „Reich der Mitte“. Obwohl der CSU-Vorsitzende als „einfacher Abgeordneter“ des Deutschen Bundestages damals kein Regierungsamt bekleidete, obwohl parallel zu seinem Besuch der 4. Nationale Volkskongress in Peking tagte, obwohl dort gerade eine neue Regierung gebildet worden und eine neue Verfassung zu verabschieden war, traf Strauß im Januar 1975 die gesamte Crème de la Crème der chinesischen Staats- und Parteielite zu ausgedehnten politischen Dialogen und empfing als erster deutscher Politiker überhaupt die „höchste Weihe einer Audienz“ (FAZ) beim mächtigsten Mann der Volksrepublik, Mao Zedong.

„Rote Gefahr“ gefährlicher als „gelbe Gefahr“

Dass eine konservativ-christliche, dem freiheitlichen, rechtsstaatlich-­demokratischen Pluralismus verpflichtete Partei ihre Fühler ins kommunistische China ausstreckte, hing mit der strategischen Überlegung zusammen, dass Deutschland und Westeuropa im Gegensatz zu Moskau von Peking nicht nur keine Gefahr drohe, sondern dass sich die europäische Sicherheitslage durch eine Intensivierung der Beziehungen zu China sogar substanziell verbessern ließe. Strauß, dessen weltpolitisches Denken sich wie das seines politikwissenschaftlichen Lehrmeisters, des Harvard-Professors und späteren US-Außenministers Henry Kissinger, in „Macht und Interessen“-Kategorien des „Politischen Realismus“ bewegte, hielt die Sowjetunion nicht nur wegen ihrer aggressiven Expansionsstrategie, son­dern schon allein aufgrund der macht­politischen Realitäten für die im Vergleich mit der Volksrepublik China weitaus bedrohlichere kommunistische Macht: Es seien schließlich „keine chinesischen Truppen“, die in Berlin und in der DDR stünden. Da nicht China, sondern die Sowjetunion europäische Gebiete besetzt habe und Moskau seine Machtposition auf Kosten der Souveränität anderer Staaten noch ausbauen wolle, sei für Europa die „rote Gefahr“ wesentlich gefährlicher als die „gelbe Gefahr“.

Der Feind meines Feindes …

Eine realistische Chance für das demokratische Europa, engere Bande zum Reich der Mitte zu knüpfen, sah Strauß in einer politischen Instrumentalisierung der zunehmenden Spannungen zwischen Peking und Moskau. Die einst eng verbundenen Kommunistischen Parteien der UdSSR und Chinas hatten sich wegen ihrer ideologischen Differenzen um den „richtigen Weg“ seit Ende der 1950er-Jahre zunehmend voneinander entfremdet. Nach dem von Peking heftig gegeißelten, von Moskau mit der „Breschnew-Doktrin“ (Doktrin der „begrenzten Souveränität sozialistischer Länder“) begründeten Einmarsch der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in der Tschechoslowakei im August 1968, der der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ diente, war es dann zum endgültigen Bruch zwischen Peking und Moskau gekommen.
Staats- und Parteichef Mao Zedong bezichtigte den ehemaligen engsten Verbündeten, einen expansiven „sozialistischen Imperialismus“ zu praktizieren, den er für noch bedrohlicher hielt als den „kapitalistischen Imperialismus“ der USA. Diese substanzielle Veränderung im Beziehungsgefüge China – Sowjetunion führte dazu, dass Washington in der Ära Nixon eine strategische außenpolitische Kursänderung, geplant und konzipiert von Sicherheitsberater Kissinger, vornahm und mittels der sogenannten „Ping-Pong-Diplomatie“ zunächst eine Annäherung an das „Reich der Mitte“ und später die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Peking vorbereitete. An Kissingers strategischer Weichenstellung setzte auch Strauß an, der den Bruch zwischen Peking und Moskau in seinem „Programm für Europa“ explizit sogar als „Vorteil“ für Europa bezeichnete, zumal er den demokratischen Staaten des Kontinentes die Möglichkeit böte, aus dem Dreiecksverhältnis zwischen Moskau, Peking und Washington ein „Vierecksverhältnis mit Einschluß Europas zu machen, um die Konstellation der Kräfte in unserem Sinne auswiegen zu können“.

Der Wolf und die Schafe

Eine konkrete Möglichkeit, von der Theorie zur Praxis zu gelangen und die anvisierte Annäherung an Peking im persönlichen Dialog mit chinesischen Spitzenpolitikern anzustoßen, eröffnete sich, als Staats- und Parteichef Mao Zedong über den chinesischen Botschafter in Bonn, Wang Shu, ausrichten ließ, dass er zu einer Begegnung mit dem CSU-Vorsitzenden bereit sei. Diese Begegnung, von breitem medialen Echo begleitet und von der Süddeutschen Zeitung gar als „Verbrüderung von Schlitzohr und Schlitzauge“ (SZ vom 21.1.1975) gedeutet, fand schließlich im Rahmen der bereits erwähnten China-Reise im Januar 1975 statt. In seinen Gesprächen mit den höchsten Repräsentanten der politischen Elite Chinas, darunter neben Mao selbst Premierminister Zhou Enlai, Vizepremier Deng Xiaoping und Außenminister Qian Guanhua, erfuhr Strauß nicht nur hohe persönliche Anerkennung und Wertschätzung, sondern die zu Fragen der Weltpolitik geführten Dialoge offenbarten insbesondere hinsichtlich der Bewertung der Strategie der Sowjetunion eine frappierende Übereinstimmung. Wie Strauß kritisierten auch dessen chinesische Gesprächspartner die aggressive sowjetische Außenpolitik im Zeichen der Breschnew-Doktrin und standen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) skeptisch gegenüber. Gleichzeitig erfuhr der CSU-Chef in Peking Unterstützung in seiner völkerrechtlichen Bewertung der deutschen Frage, nachdem seine Gastgeber betonten, dass es für sie nur eine deutsche Nation gebe.

Der bemerkenswert hohe Grad an Übereinstimmung drückte sich in den Gesprächen auch in der Verwendung gleicher oder ähnlicher Metaphern aus. Wenn Strauß etwa davor warnte, im Zuge einer von Moskau gesteuerten „gesamteuropäischen Gemeinschaftskonferenz“ dem „Wolf“ gut gefütterte „Lämmer als angenehme Beute“ zu präsentieren, pflichteten ihm seine chinesischen Gesprächspartner mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer „Gemeinschaft zwischen Bären und Schafen“ bei. Als der CSU-Vorsitzende während der Unterredung mit Mao Zedong seine Sorge zum Ausdruck brachte, dass Moskau die Vorherrschaft in Europa anstrebe, antwortete dieser, so notierte Strauß-Begleiter Friedrich Voss in seinem Tagebuch, dies sei „das gleiche in Asien“. Aus diesem Grunde hatte er, wie auch der Stellvertretende Generalstabschef Li-Da Strauß gegenüber bestätigte, öffentlich mehrfach darauf verwiesen, dass China für die Sowjetunion zwar ein „schmackhaftes Stück Fleisch“ sei, das jedoch im Zuge seiner Verteidigungsstrategie „harte Knochen“ entwickelt habe, die „nicht leicht zu verdauen“ wären.

„Peking ist eine Reise wert“

Wie nicht anders zu erwarten, erntete Strauß nach seiner Rückkehr von der triumphalen China-Reise aus dem Bonner Regierungslager mit Hinweis auf eine zu erwartende Beeinträchtigung der Beziehungen zur Sowjetunion heftige Kritik. Bereits im Jahre 1971, als Strauß anlässlich des Besuches von Henry Kissinger in China die Meinung vertreten hatte, der „Faktor China“ müsse auch „in die Gesamtüberlegungen der deutschen Außenpolitik einbezogen werden“, war der CSU-Vorsitzende aus dem Regierungslager mit den Worten, „Strauß will mit dem großen Löwen den großen Bären bezwingen“, getadelt worden. Strauß selbst mutmaßte in seinen Erinnerungen später, seine Begegnung mit Mao Zedong habe den Ärger der Bundesregierung vor allem deshalb hervorgerufen, weil SPD und FDP in ihrer „ostpolitischen Euphorie und Beflissenheit“ befürchteten, dass in Moskau die „Reise eines prominenten deutschen Politikers zum feindlichen kommunistischen Bruder Unmut und Missfallen“ erregen werde. Die vermeintlich von ihm angestrebte „Achse Peking – Bonn“ existiere jedoch lediglich in der Phantasie seiner politischen Gegner und habe in der Unterredung mit den chinesischen Spitzen „nur ein belustigtes Lächeln“ hervorgerufen.

Was auch immer die Kritiker der China-Reise des CSU-Vorsitzenden im Sinn hatten, sie wollten jedenfalls nicht zur Kenntnis nehmen, dass die initiierte Annäherung an Peking „klassische“ Grundsätze des Politischen Realismus, wie er von Strauß in deutlicher Anlehnung an Kissinger vertreten und praktiziert wurde, widerspiegelte, und – auf die Formel des bekannten arabischen Sprichwortes „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ gebracht – unter Instrumentalisierung des Bruches zwischen Moskau und Peking die Stärkung der internationalen Position der Bundesrepublik Deutschland durch die Verbesserung der Beziehungen Bonn – Peking ins Visier nahm.

Wenige Monate nach Strauß konnte schließlich auch Bundeskanzler Helmut Schmidt Staats- und Parteichef Mao Zedong in China treffen. „Schlitzohr“ Strauß hatte dem Bundeskanzler noch während seiner eigenen Reise im Januar 1975 aus Kanton eine Postkarte geschrieben und „mit freundlichen Grüßen“ avisiert: „Peking ist eine Reise wert.“

Literatur

Reinhard Meier-Walser, Die Bedeutung persönlicher Begegnungen im außenpolitischen Werk von Franz Josef Strauß – am Beispiel seiner China-Reise im Januar 1975, in: Renate Höpfinger (Hrsg.), Die Mauer ist weg! Mauerfall, Wende­jahre und demokratischer Neubeginn (Bayerische Lebensbilder 5) München 2019, S. 235-265.

Franz Josef Strauß, Herausforderung und Antwort. Ein Programm für Europa, Stuttgart 1968.

Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Neuausgabe München 2015.

Friedrich Voss, Den Kanzler im Visier. 20 Jahre mit Franz Josef Strauß, Mainz/München 2000.