Vom Atom-Ei zu Bavaria One - Spitzenforschung und -technologie in Bayern

Bernhard von Zech-Kleber

Die bildungspolitischen Diskussionen in den 1960er-Jahren waren in Deutschland geprägt von Fragen der Erweiterung der bestehenden Hochschullandschaft um zusätzliche und neue Einrichtungen einerseits sowie einer Anhebung des Studienniveaus andererseits. Veränderungen waren aus unterschiedlichen Gründen vonnöten: Die Absolventen von Bildungseinrichtungen wie den staatlichen Ingenieursschulen und Höheren Fachschulen forderten eine Verbesserung der Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse gegenüber denjenigen anderer Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). An einer Höherqualifizierung und Besserstellung war auch die Wirtschaft brennend interessiert, um die Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu stärken. Hinzu kam, dass in den 1960er-Jahren ein starker Anstieg der Studierendenzahlen an den bestehenden Universitäten beobachtet wurde. Manche konstatierten bereits eine Überlastung der Universitäten und sprachen in diesem Zusammenhang von der „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht, Christ und Welt, 31.1.1964). Es bestand die Furcht, im Wettlauf um Technologie und Wirtschaftskraft international und besonders gegenüber dem Ostblock zurückzufallen, nachdem 1957 der Sputnik-Schock die westliche Welt erstarren ließ.

Weichenstellungen für die Zukunft

Bereits seit 1952 diskutierte man in Bayern über eine vierte Landesuniversität, kam aber fast zehn Jahre insbesondere aufgrund finanzieller Erwägungen nicht zu einer Entscheidung. Erst am 10. Juli 1962 hatte der Landtag der Gründung grünes Licht gegeben. Neben München, Würzburg und Erlangen sollte Regensburg Universitätsstandort werden. Zu den größten Befürwortern einer vierten Universität gehörten Alois Hundhammer und Alfons Goppel, während Hans Ehard und Rudolf Eberhard aus finanziellen Gründen zu den schärfsten Kritikern dieser Idee zählten.

Parallel dazu wurden Überlegungen angestellt, wie trotz neuer Universitäten – in rascher Folge wurden weitere Universitäten in Augsburg (1969), Bayreuth (1971 zunächst Gesamthochschule, seit 1975 Universität), in Bamberg, Eichstätt und Passau (jeweils 1972) gegründet – den bildungspolitischen Herausforderungen einerseits und den Erwartungen der Wirtschaft andererseits Genüge getan werden kann. Die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder beschlossen daher am 5. Juli 1968 die Einführung einer neuen Hochschulform. Die Konturen der sog. Fachhochschulen wurden am 31. Oktober 1968 in einem Abkommen der Länder untereinander gefasst. Relativ rasch ging die Politik an die Umsetzung der Pläne. Den gesetzlichen Rahmen hierfür bildete das neue Hochschulrahmengesetz (HRG). In der Folge wurden nicht nur bestehende Bildungseinrichtungen zu Fachhochschulen umgewidmet, sondern auch neue Einrichtungen gegründet. Ihre Ausrichtung war im Vergleich mit den Universitäten deutlich praxisnäher und der Austausch mit der Wirtschaft intensiver.

Bildungschancen in der Fläche des Landes

Die bis dahin eher dünn besiedelte Hochschullandschaft erfuhr mit der Gründung und Einrichtung der neuen Universitäten und Fachhochschulen (München 1971, Weihenstephan 1971, Würzburg-Schweinfurt 1971, Augsburg 1971, Coburg 1971, Herrsching 1974/75, Kempten 1977, Regensburg 1977, Landshut 1978) ab Ende der 1960er-Jahre einen enormen Wandel. Damit wurde nicht nur der Bildungsbereich in der Region gestärkt, wie es Ministerpräsident Alfons Goppel bereits Mitte der 1960er-Jahre immer wieder betonte. Die Präsenz von Wissenschaft und Forschung sowie hochqualifizierten Absolventinnen und Absolventen machte die jeweiligen Universitäts- und Fachhochschulstandorte für die Ansiedlung von Unternehmen attraktiv. Wissend um die Strahlkraft der Universitäten und Fachhochschulen legte Alfons Goppel in seiner Ministerpräsidentschaft einen Schwerpunkt auf den weiteren Ausbau der bestehenden Hochschullandschaft. Die Aufnahme des Lehrbetriebs an der Universität Regensburg zum Wintersemester 1967/68 war dabei nur ein Meilenstein unter vielen. Bayern setzte unter Goppel zahlreiche Empfehlungen des von Bundesregierung und Ländern 1958 gegründeten Wissenschaftsrats um. Hierzu gehörten anfänglich v. a. die Erweiterung, Neugründung und Zusammenlegung bestehender Einrichtungen. Neben der Einrichtung einer technischen Fakultät an der Universität Erlangen-Nürnberg 1966 zählt hierzu auch die Grundsteinlegung des Klinikums Großhadern. Im Sog des dortigen Klinikneubaus siedelte sich im benachbarten Martinsried nicht nur das Max-Planck-Institut für Biochemie und Neurobiologie an. Es entstand ein weltweit beachtetes Cluster von Biotech-Unternehmen.

Spitzenforschung und Zukunftstechnologien Made in Bavaria

Parallel zum massiven Ausbau der Hochschullandschaft gelang die Ansiedlung weiterer (außer-)universitärer Forschungseinrichtungen in Bayern. Bereits 1949 gründete sich in München die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der Angewandten Forschung und expandierte in den darauffolgenden Jahrzehnten mit weiteren Standorten nicht nur innerhalb Bayerns. So konnte sich in Erlangen durch die enge Verzahnung außer- und universitärer Forschung auch ein wichtiger Standort der Mikroelek­tronikindustrie entwickeln, an dem in den 1980er-Jahren der mp3-Standard entwickelt wurde. Die Inbetriebnahme des ersten deutschen Forschungsreaktors in Garching bei München am 31. Oktober 1957 führte 1960 zur Einrichtung einer Zweigniederlassung der Karlsruher Gesellschaft für Kernforschung in Neuherberg bei München, der Versuchs- und Ausbildungsstätte für Strahlenschutz. Die Nähe zu den beiden Münchner Universitäten sorgte für einen sehr intensiven Austausch. Kernphysik, Neutronenphysik, Festkörperphysik, Bestrahlungstechnik, Radiochemie – die Möglichkeiten, die sich der universitären Forschung in Garching boten, wurden intensiv genutzt. Bereits 1962 forschten und experimentierten rund 210 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Garchinger Forschungsreaktor. Auch die starke Präsenz der Luft- und Raumfahrtindustrie in Bayern ist durch die räumliche Nähe zu Universitäten und Fachhochschulen begünstigt. Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und ihre Aufnahme in das transatlantische Verteidigungsbündnis, die NATO, 1955 war für Unternehmen wie die Bölkow GmbH in Ottobrunn bei München und der Messerschmitt AG in Haunstetten bei Augsburg von enormer Bedeutung.

Gegenwärtige Initiativen

Bis in die Gegenwart profitiert der Freistaat von den Weichenstellungen im Hochschul- und Forschungsbereich insbesondere der 1960er- und 1970er-Jahre. Doch die nachfolgenden Staatsregierungen beließen es nicht dabei. Im Gegenteil: Anfang der 1990er-Jahre wurde unter Minister­präsident Edmund Stoiber das Programm „Offensive Zukunft Bayern“ initiiert, in dessen Rahmen aus Privatisierungserlösen innovative Forschungsvorhaben und die benötigte Infrastruktur gefördert wurden. Ergebnis dieser besonderen Förderung internationaler Spitzenforschung durch den Freistaat war bereits 2006 die Verleihung des Prädikats „Exzellenzuniversität“ an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und die Technische Universität (TUM) in München. Im erneuten Auswahlverfahren der Exzellenzinitiative wurden beide Universitäten 2019 wiederum in den erlauchten Kreis der elf besten Universitäten in Deutschland gewählt. Seit November 2019 werden die beiden Exzellenzuniversitäten mit jähr­lich rund 20 Mio. Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert und erhalten vom Freistaat zusätzlich rund 6 Mio. Euro. Staatsminister Bernd Sibler bemerkte zur erneuten Auszeichnung: „Der Freistaat Bayern schafft die Rahmenbedingungen dafür, dass sich unsere Hochschulen zu weltweit gefragten Einrichtungen entwickeln können!“ (Pressemitteilung des Bayer. Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, Nr. 177 v. 19.7.2019).

Im gleichen Kontext wie die jüngsten Auszeichnungen bayerischer Universitäten und in der Tradition der bayerischen Luft- und Raumfahrtindustrie steht das Raumfahrtprogramm „Bavaria One“, das Ministerpräsident Markus Söder im Frühjahr 2018 vorgestellt hat. Das Förderprogramm, das die Region München „zum wichtigsten Standort der europäischen Raumfahrt“ machen soll, wird bis 2023 rund 700 Mio. Euro in die Luft- und Raumfahrttechnik investieren. Hierfür wurde eine neue „Fakultät für Luftfahrt, Raumfahrt und Geodäsie“ an der TUM errichtet. Mithilfe von Spitzenforschung soll nicht nur die bayerische Wirtschaft gefördert werden. Bavaria One hat auch zum Ziel, mithilfe von in Bayern entwickelter Spitzentechnologie Antworten auf die Fragen und Herausforderungen der Zukunft zu geben. Ministerpräsident Markus Söder konkretisierte die Ziele des Investitionsansatzes: „Wir können aus der Weltraumbeobachtung zentrale Schlüsse für die Klimaforschung und das Klimamanagement machen“ (BR v. 1.7.2019). Mit Bavaria One setzt die aktuelle CSU-geführte Staatsregierung die Bemühungen ihrer Vorgänger konsequent fort und stärkt damit nicht nur den Forschungs- und Technologiestandort Bayern, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der bayerischen Wirtschaft. Sie knüpft damit an die in Bayern seit Jahrzehnten geübte und erfolgreiche Praxis an, durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, den Nährboden für internationale Spitzenforschung und -technologie zu bereiten.

Literatur

Stephan Deutinger, Vom Agrarland zum High-Tech-Staat. Zur Geschichte des Forschungsstandorts Bayern 1945–1980 (Abhandlungen und Berichte: Neue Folge / Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik 15) München/Wien 2001.

Claudia Friemberger, Alfons Goppel. Vom Kommunalpolitiker zum Bayerischen Ministerpräsidenten (Untersuchungen und Quellen zur Zeitgeschichte 5) München 2001.

Peter Kidess, Die räumliche und unternehmerische Konzentration in der deutschen Luftfahrtindustrie nach 1945 (Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftsgeschichte 11) Lohmar 2003.

Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, 2. völlig neu bearb. Aufl. München 2007, Bd. IV,1: Staat und Politik, darin: Karl-Ulrich Gelberg, Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel (1945–1978), S. 635-956. Ders., Ausblick, S. 957-1008. Bd. IV,2: Die innere und kulturelle Entwicklung: darin Laetitia Boehm, Universitäten und Wissenschaften im neubayerischen Staat, S. 436–494.

Werner Wiater, Fachhochschulen, publiziert am 26.08.2019 (aktualisierte Version 03.09.2019); in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fachhochschulen (28.02.2020)