Warum müssen wir Bayern notfalls die letzten Preußen werden?

Stephan Oetzinger

„Wir Bayern müssen notfalls die letzten Preußen werden“, diesen viel zitierten Satz von Franz Josef Strauß findet man immer wieder im Zusammenhang mit der bayerischen Normenkontrollklage gegen den Grundlagenvertrag. Doch warum müssen wir Bayern notfalls die letzten Preußen werden? Warum sollte sich ausgerechnet der Freistaat, der 1949 das Grundgesetz als zu wenig föderalistisch ablehnte, für genau dieses Grundgesetz und den Erhalt des Deutschlandbegriffs nach dem Grundgesetz stark machen?

Haltung der Union zu den Ostverträgen und zum Grundlagenvertrag mit der DDR

Bereits der unionsinterne Streit zwischen CDU und CSU um die Frage der Positionierung zu den Ostverträgen in den Jahren 1970/1971 hatte einen tiefen Riss durch die gemeinsame Bundestagsfraktion verlaufen lassen. Dem klaren Nein zu den Verträgen, welches Strauß und seine CSU-Kollegen der Landesgruppe vertraten, stellte Rainer Barzel ein schwammiges „so nicht“ gegenüber, da er als Kanzlerkandidat der CDU die Verträge nicht im Parlament scheitern lassen wollte. Diese beiden konträren Positionen führten nur deshalb nicht zu einer Spaltung der gemeinsamen Bundestagsfraktion, weil man sich auf eine Enthaltung zu den Ostverträgen einigte. Diesen Schlingerkurs, die fehlende und deutliche Positionierung in der Frage der Ostverträge, identifizierte man seitens der CSU als eine der Hauptursachen der Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 1972. Bei der entscheidenden Fraktionssitzung von CDU und CSU am 17. Mai 1972 hatte Strauß in seiner Wortmeldung deutlich gemacht, dass es einen vergleichbaren Kompromiss mit ihm kein zweites Mal geben werde: „So etwas darf sich nicht mehr wiederholen, sonst schlägt sich niemand mehr.“

Schon wenige Monate nach der Wahl des Jahres 1972 sollte es zum Schwur kommen, ob es eine Wiederholung der Enthaltung und damit der stillschweigenden Zustimmung von CDU und CSU zu einem weiteren Baustein der Brandschen Ostpolitik geben sollte. Egon Bahr hatte als Unterhändler der Bundesregierung den Grundlagenvertrag mit der DDR im Sommer vor der Bundestagswahl verhandelt und die Unterzeichnung erfolgte noch vor Ende des Jahres.

In Bundestag und Bundesrat leistete die CSU erheblichen Widerstand gegen den eingebrachten Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Franz Josef Strauß sprach im Bundestag davon, dass der Grundlagenvertrag klar gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verstoße, weshalb eine Zustimmung aus seiner Sicht nicht denkbar sei. Der Bundestag ratifizierte schließlich Anfang Mai 1973 den Grundlagenvertrag gegen die Stimmen von CDU und CSU. In der Länderkammer erfolgte ebenfalls die Zustimmung, bei der Enthaltung aller CDU geführten Länder und gegen die Stimme Bayerns, da vorher eine Anrufung des Vermittlungsausschusses durch Ministerpräsident Alfons Goppel erfolglos geblieben war.

Der Gang nach Karlsruhe

Auf parlamentarischem Weg war der Grundlagenvertrag damit beschlossen, als einzig verbleibende Option, die Zustimmung noch zu stoppen, blieb es juristische Mittel einzusetzen. Bereits mit Beginn der Befassung der parlamentarischen Gremien hatten sich CDU und CSU auf Fraktions- und Parteiebene mit der Frage einer möglichen Normenkontrollklage gegen den Vertrag zwischen Bundesrepublik und DDR befasst. Die CSU-Landesgruppe diskutierte erstmals Mitte Februar 1973 intensiv die Frage, ob man nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht ziehen solle. Anlass war, dass sich der Fraktionsvorstand der Gesamtfraktion mit 21 zu 13 Stimmen gegen eine Normenkontrollklage entschieden hatte. In der Sitzung der Landesgruppe forderte Richard Jaeger eine Klage gegen den Grundlagenvertrag schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit der Union. Parteivorsitzender Strauß machte deutlich, dass es zu einer Klage kommen müsse, die Begründung dafür müsse jedoch eine politische und keine juristische sein. Schließlich votierte die CSU-Landesgruppe mit einer deutlichen Mehrheit von 44 der 48 Mitglieder für eine Verfassungsklage.

Trotz dieser klaren Mehrheit in der CSU-Landesgruppe war Strauß auf die Zustimmung der Gesamtfraktion angewiesen. Die Debatte in der CDU/CSU-Fraktion war kontrovers, innerhalb der CDU-Abgeordneten herrschte keine einheitliche Meinung. Der Bundesparteiausschuss der CDU hatte gegen die Klage votiert, der Arbeitskreis V
der CDU/CSU-Fraktion diese jedoch befürwortet. Schließlich stimmte die Mehrheit der Fraktion gegen eine Verfassungsklage. Mit dieser Abstimmung wurde klar, dass das in Artikel 93 GG für eine Verfassungsklage erforderliche Quorum von mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht werden würde.

Die CSU-Landesgruppe, die an der Verfassungsklage festhielt, entschied nun, den Weg über die Partei und die Bayerische Staatsregierung zu gehen. So forderte es der Landesgruppenvorsitzende Richard Stücklen in einem Schreiben an Parteivorsitzenden Strauß: „Das einzige Organ, das wegen des Grundvertrages das Verfassungsgericht anrufen und auf das von der CSU aus Einfluss genommen werden kann, ist nunmehr die Bayerische Staatsregierung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass der genannte Beschluss der CSU-Landesgruppe bei der Meinungsbildung im Landesvorstand der CSU berücksichtigt wird.“

Das Ringen im Parteivorstand

Damit lag der Ball zunächst im Feld des CSU-Parteivorstandes. Insgesamt viermal stand das Thema der Verfassungsklage auf der Tagesordnung des Gremiums. Bereits bei der ersten Diskussion wurde deutlich, dass eine Normenkontrollklage nicht ausschließlich auf Unterstützer im Vorstand der CSU traf: Während der Fraktionsvorsitzende der CSU im Bayerischen Landtag, Alfred Seidl, sich für eine Klage aussprach, argumentierte Innenminister Bruno Merk deutlich defensiver und wollte die Entscheidung von den juristischen Erfolgsaussichten abhängig machen.

Nach zwei weiteren Befassungen fand die letztlich entscheidende Sitzung des Landesvorstandes am 21. Mai 1973, kurz vor der Entscheidung im Bayerischen Ministerrat, statt. In dieser Sitzung wurden die Fronten zwischen den pro Klage argumentierenden Bundespolitikern auf der einen und den eher gegen einen Gang nach Karlsruhe tendierenden Landespolitikern um Ministerpräsident Alfons Goppel deutlich. Dieser musste sich unter anderem den Vorwurf gefallen lassen, dass sich die Bayerische Staatsregierung wie ein Hund auf die Jagd tragen lasse. Schließlich votierte der Landesvorstand mit 21 von 29 Anwesenden für die Normenkontrollklage gegen den Grundlagenvertrag.

Das Zögern der Bayerischen Staatsregierung

Mit dem Etappensieg im Landesvorstand war eine wichtige Hürde genommen. Letztendlich musste aber die Bayerische Staatsregierung die Entscheidung treffen, ob der Freistaat Bayern vor das Bundesverfassungsgericht ziehen sollte oder nicht. Der Ministerrat hatte sich bereits im Vorfeld mehrfach mit der Positionierung Bayerns zum Grundlagenvertrag auseinandergesetzt und unter anderem die Ablehnung im Bundesrat beschlossen. Dennoch zeichnete sich seit Februar 1973 ab, dass die Bereitschaft der bayerischen Kabinettsmitglieder, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, im Schwinden begriffen war.

Um Einfluss auf die endgültige Entscheidung zu nehmen, bat Strauß, das Thema in einer Kabinettsitzung zu behandeln, bei der er auch anwesend sein konnte. An der Kabinettssitzung am 22. Mai 1973 nahmen dann neben Strauß weitere prominente CSU-Politiker wie Landesgruppenchef Stücklen und Landtagsfraktionsvorsitzender Seidl teil. Es kam zu einer langen und intensiven Diskussion. Während Strauß in seinen Erinnerungen von einer mehrstündigen Redeschlacht spricht, in der er nur durch sein ganzes Gewicht als Parteivorsitzender überzeugen konnte, bestätigte Ministerpräsident Goppel in einem Interview lediglich die lange Debatte im Ministerrat. In der Abstimmung entschied sich der Ministerrat schließlich mit einer knappen Mehrheit von acht zu sechs Stimmen für die Klage des Freistaats Bayern gegen den Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht. Damit hatte sich Strauß dem zögernden Ministerpräsidenten und seinem Kabinett gegenüber durchgesetzt und erreicht, dass Bayern erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gegen einen völkerrechtlichen Vertrag vor Gericht zog und damit juristisches Neuland betrat.

Warum müssen bzw. mussten wir Bayern aber nun notfalls die letzten Preußen werden? In der Landtagsdebatte zu der Entscheidung der Staatsregierung, gegen den Grundlagenvertrag nach Karlsruhe zu ziehen, begründete es der damalige Ministerpräsident mit der Glaubwürdigkeit und der zentralen Frage, dass Bayern damit für den Erhalt der Verfassungsgrundlage der Bundesrepublik, im Sinne des großen Ganzen gehandelt habe: „Hier hat die Bayerische Staatsregierung als ein vom Grundgesetz mit eigenem Klagerecht ausgestattetes Organ gesprochen und hat sich nicht in dieser Weise als absolut bayerisch interessiert gezeigt, sondern sie hat sich hier für die Verfassung und für das Grundgesetz interessiert gezeigt.“



Literatur

Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Bd. 2. Sitzungsprotokolle 1972-1983, bearbeitet von Volker Stalmann (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien) Düsseldorf 2019.

Dieter Blumenwitz, Die Christlich-Soziale Union und die deutsche Frage, in: Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945-1995, Grünwald 1995, S. 333-365.

Stephan Oetzinger, Die Deutschlandpolitik der CSU. Vom Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bis zum Ende der Zusammenarbeit mit der DSU 1993, Diss. Universität Regensburg 2016.